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»Oslo-Stories: Sehnsucht«: Es geht nicht um Moral

In dem Film »Oslo-Stories: Sehnsucht« erkundet ein Schorn­stein­feger seine schwule Seite

  • Nicolai Hagedorn
  • Lesedauer: 4 Min.
Auf den Dächern der Gesellschaft lässt sich über alles reden.
Auf den Dächern der Gesellschaft lässt sich über alles reden.

Ausgangspunkt des Films »Oslo-Stories: Sehnsucht«, im Original schlicht und viel treffender »Sex«, ist ein Gedankenexperiment. Was passiert, wenn ein Familienvater sich einmal gehen lässt, für einen Augenblick seiner Lust folgt, ohne Rücksicht auf seine Beziehungen, ohne Rücksicht auf Konventionen und Konsequenzen? Wenn er spontanen Gelegenheitssex mit einem Kunden, einem Mann, hat?

Genau das hat der namenlose Schornsteinfeger (Jan Gunnar Røise) in Dag Johan Haugeruds Film getan und bespricht das nun wie selbstverständlich mit seinem ebenfalls namenlosen Vorgesetzten und Kollegen (Thorbjørn Harr), während die beiden über den Dächern Oslos eine Pause vom Schornsteinfegen machen. Auch der Kollege hat etwas zu erzählen, von einem wiederkehrenden Traum, in dem David Bowie ihn ansieht, »als ob ich eine Frau wäre«.

Beide Männer sind Handwerker, Schornsteinfeger, sie sind das, was man den »kleinen Mann« nennen würde. Wir haben es hier also nicht mit Intellektuellen oder Künstlern zu tun. Beide sind Familienväter in glücklichen, aber unspektakulären Ehen. Hier herrscht größte »Normalität« (was immer das auch sein mag). Aber aus dieser Normalität heraus wird über die eigene sexuelle Identität und die eigene Männlichkeit räsoniert. Daraus entwickelt sich eine sehr hintergründige und latente Komik, die über und unter dem Treiben der Protagonisten über beinahe die gesamte Dauer des Films liegt.

Ein Teil von ihr, sagt seine Frau, sei neidisch auf ihn.

Das Komische hat hier aber nicht in erster Linie eine unterhaltende Funktion. Haugerud will uns, indem wir die von ihm gezeigten Situationen als lustig, absurd, skurril empfinden, nicht zum Lachen (über etwas) bringen, sondern zum Nachdenken darüber, warum wir das eigentlich komisch finden. Denn was genau ist absurd oder skurril daran, dass zwei Männer über Sex sprechen, über das Gefühl, sich im Traum wie eine Frau wahrgenommen zu fühlen, und darüber, was das für sie bedeutet? Was ist skurril oder absurd daran, wenn solche Themen wie selbstverständlich auch vor dem eigenen Teenager-Sohn mit der Ehefrau besprochen werden, während jener dem Vater ein Kostüm für den nahenden Tanzauftritt näht?

Haugeruds Welt wirkt wie eine Fantasiewelt mit eigenen Regeln, man fühlt sich vage an Quentin Dupieux erinnert, bei dem aber das Absurde oft nur als Verfremdungseffekt herhält. »Oslo-Stories: Sehnsucht« funktioniert anders. Was wir als absurd empfinden, ist es nur deswegen, weil wir mit gesellschaftlichen Konventionen und Ideologien aufgewachsen sind und sie verinnerlicht haben, die das eigentlich Normalste der Welt absurd und komisch erscheinen lassen. Was wiederum selbst ziemlich absurd ist.

Dabei bleibt der Film aber nicht stehen, Haugerud will durchaus nicht pädagogisieren. Worüber wir mit ihm hier vielmehr nachdenken sollen, ist die Frage, inwiefern und in letzter Konsequenz warum unser patriarchal und kapitalistisch determiniertes Selbstverständnis vieles, worauf wir eigentlich Lust haben, als falsch, unmoralisch oder anders problematisch auffassen muss.

Woher kommt eigentlich die Verletzung der Ehefrau (Siri Forberg), die doch von ihrem Mann umgehend über den Seitensprung informiert wurde? »Es geht nicht um Moral«, erklärt sie ihm, während er ihr versichert, dass er nicht homosexuell geworden sei und dass er sie nach wie vor liebe.

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Forberg verkörpert die »Betrogene« als sanftmütige, liebende Frau und Mutter, die mit dem Schmerz, den die Aktion ihres Mannes in ihr auslöst, umzugehen versucht, ohne die Situation allzu sehr eskalieren zu lassen.

»Das Schlimmste ist«, erklärt sie ihm einmal, »dass ein Teil von mir sogar etwas neidisch auf dich ist. Ich dachte, ich könnte zugeben, dass ich auch Lust auf so etwas gehabt hätte. Aber jetzt hast du es getan, und es tut so verdammt weh, der andere zu sein. Und das ist schrecklich, denn eigentlich will ich, dass wir beide diese Freiheit haben. Aber wenn diese Freiheit so wehtut, kann ich das dann aushalten?«

Der Film besteht mit wenigen Ausnahmen aus Gesprächen der Protagonist*innen, die vier erwachsenen Hauptfiguren sind namenlos, Kulisse sind die Dächer von Oslo sowie die Wohn- und Schlafräume der beiden Familien, in denen über die neu entdeckten sexuellen Erfahrungen der beiden Männer gesprochen wird.

Der Film kann als progressive Utopie verstanden werden. Mit jeder Szene und Sequenz suggeriert Haugerud, dass diese Utopie eigentlich ein naheliegender Umgang miteinander ist. In jedem Fall aber ist der Film ein Plädoyer dafür, über alles, was uns verletzt, bewegt, anmacht und worauf wir Lust haben, mit denjenigen zu reden, denen wir vertrauen, auch wenn sie die Freiheit, die wir uns nehmen wollen, verletzen könnte.

»Oslo Stories: Sehnsucht«, Norwegen 2024. Regie/Buch: Dag Johan Haugerud. Mit: Jan Gunnar Røise, Thorbjørn Harr, Siri Forberg und Birgitte Larsen. 125 Min. Start: 22.5.

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