Für das Ungewohnte und Unerwartete

Sonja Hilzinger möchte die Kunstgelehrte Grete Ring der Vergessenheit entreißen

  • Monika Melchert
  • Lesedauer: 4 Min.
Grete Ring (links) in ihrem Sommerhaus in Sacrow bei Potsdam mit Marie Büning, um 1930
Grete Ring (links) in ihrem Sommerhaus in Sacrow bei Potsdam mit Marie Büning, um 1930

Sie erwartet viel vom Leben. Als das neue Jahrhundert beginnt, ist Grete Ring, geboren 1887 in Berlin, ein begabtes junges Mädchen. Sie wächst in einer hochgebildeten jüdischen Beamtenfamilie auf, zwischen Büchern und Bildern, Museen und Theatern. Das privilegierte großbürgerliche Leben weiß sie mit aller Energie zu nutzen und schreitet den engen gesellschaftlichen Spielraum, der Frauen ihrer Generation zur Verfügung steht, voll aus. So wird Grete Ring, die ihr Abitur noch als Externe ablegen muss, eine der ersten Frauen, die ab 1906 an der Friedrich-Wilhelms-Universität Kunstgeschichte studiert, zunächst als Gasthörerin und erst dann »ordentlich eingeschrieben«, denn in Preußen wird das Studium von Frauen erst 1908 erlaubt.

Ihre Liebe zur Kunst wird nicht zuletzt befördert durch die Verwandtschaft mit dem berühmten Maler Max Liebermann, dessen Nichte sie ist. Als eine der ersten Frauen im Fach Kunstgeschichte promoviert sie schließlich 1912 in München mit einer Arbeit über die niederländische Bildnismalerei im 15. und 16. Jahrhundert. Die Literatur- und Kunstwissenschaftlerin Sonja Hilzinger, die sich mit ihren Publikationen unter anderem über Anna Seghers, Christa Wolf oder Inge Müller einen Namen gemacht hat, möchte mit ihrem Buch Grete Ring der Vergessenheit entreißen.

Mit geradezu detektivischem Spürsinn hat die Autorin in den verschiedensten Archiven, in Museen und Bibliotheken, in den Korrespondenzen mit weit verstreuten Briefpartnern, meist Kollegen und Kunstbegeisterte wie sie, eine Vielzahl von Quellen und Lebenszeugnissen ihrer Protagonistin entdeckt – von der Kaiserzeit bis in die 1950er Jahre. Mit einer immensen Arbeit und viel Empathie stellt sie die Kunstgelehrte Grete Ring in den Fokus der Zeitgeschichte, in die beruflichen und privaten Kontexte. So entsteht das Panorama eines exemplarischen Frauenlebens im 20. Jahrhundert mit allen Katastrophen der Epoche, zwei Weltkriegen und dem Grauen des Nationalsozialismus.

Grete Ring arbeitet zunächst in der Berliner Nationalgalerie, ab 1920 dann in der bekannten Galerie Paul Cassirer, kuratiert Ausstellungen, erwirbt Erfahrungen im Kunsthandel und tritt 1928 als Teilhaberin in die Firma ein. Selbst trägt sie, mit eher geringen finanziellen Mitteln, eine Sammlung von Handzeichnungen deutscher und französischer Maler des 19. Jahrhunderts zusammen, darunter Caspar David Friedrich, Adolph Menzel, Max Liebermann, Eugène Delacroix, Paul Cézanne oder Edgar Degas.

Über Jahre ist sie in den wichtigsten europäischen Kunststädten wie Paris, Amsterdam oder Florenz unterwegs, besucht die bedeutenden Ausstellungen, lernt die berühmten zeitgenössischen Maler kennen und publiziert in den tonangebenden Fachzeitschriften. Die Entwicklung von Picassos Werk etwa verfolgt sie zeitlebens mit großer Begeisterung. So wird sie zum anerkannten Mitglied eines weitverzweigten Netzwerks gleichgesinnter Kunstbegeisterter. Und Grete Ring kann gut schreiben, durchaus keine Selbstverständlichkeit unter Wissenschaftlern. Ihre stete Offenheit für das Neue, Ungewohnte und Unerwartete macht sie zu einer Pionierin auf dem Gebiet der Kunstgeschichte.

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Gerade noch kuratiert sie 1932/33 zusammen mit dem Kunsthändler Alfred Flechtheim die viel beachtete dreiteilige Ausstellungsfolge »Lebendige deutsche Kunst«. Nur Monate später kommt es mit der Machtübertragung an die Nationalsozialisten zu einem unvorstellbaren Zivilisationsbruch. Grete Ring muss erleben, wie die Nazis unter dem denunziatorischen Titel »Entartete Kunst« die Malerei der Moderne ausstellen, darunter viele Werke von Künstlern, die sie persönlich kennt und schätzt. Mehr und mehr werden die beruflichen Wirkungsmöglichkeiten jüdischer Bürger eingeschränkt, und so bleibt ihr als einziger Ausweg die Emigration nach London.

Dort nutzt sie all ihren Mut und praktischen Sinn zu einem erfolgreichen Neuanfang. 1938 gründet sie die britische Filiale der Firma Paul Cassirer. Trotz guter Verbindungen erfährt auch sie im Exil das Gefühl von Vereinzelung und Verlust, das den Betroffenen den Boden unter den Füßen entzieht. Wie sie selbst mussten beinahe alle engen Freunde emigrieren, die Verbindungen zu ihnen werden immer schwieriger, und so bleibt die Kunstgeschichte Zuflucht und letztes Refugium.

In diesen Jahren entsteht in London ihr großes Buch über die französischen Primitiven. Ein schönes Credo, dem sich die Kunstpublizistin lebenslang verpflichtet fühlt: Sie wolle die Künstler »nicht wie getrocknete Pflanzen im Herbarium präsentieren, sondern in dem Garten, in dem sie gewachsen sind, und in dem Klima, in dem sie geblüht haben«.

Eines der wenigen erhaltenen Fotos, auf dem Cover abgebildet, zeigt Grete Ring vor ihrem geliebten Sommerhaus in Sacrow bei Potsdam. Sie wird es nie wiedersehen. Nach Deutschland kehrt sie nicht zurück. 1952 stirbt sie in Zürich. 2023 widmete die Liebermann-Villa am Wannsee ihr eine würdigende Personalausstellung, »Grete Ring, Kunsthändlerin der Moderne«. Eine Frau, deren Aufbruch in ein selbstbestimmtes Leben trotz vieler Widerstände gelungen ist.

Sonja Hilzinger: Grete Ring. Kunstgelehrte und Kunsthändlerin. Eine Biografie. Reimer-Verlag 256 S., geb., 39 €.

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