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»Was erlauben Broadhouse?«

Ein Verein, ohne den es die Marx-Engels-Gesamtausgabe nicht gäbe, blickt zurück und nach vorn

Achtung, dieser Denker nimmt »seine Erläuterungen aus jedem Zweig der Wissenschaft«, wie schon Friedrich Engels wusste. Genau aus diesem Grund gibt es die MEGA, die sogar die DDR und die UdSSR überlebt hat.
Achtung, dieser Denker nimmt »seine Erläuterungen aus jedem Zweig der Wissenschaft«, wie schon Friedrich Engels wusste. Genau aus diesem Grund gibt es die MEGA, die sogar die DDR und die UdSSR überlebt hat.

»Der erste Band des Marxschen ›Kapitals‹ ist Allgemeinbesitz, soweit es Übersetzungen in andere Sprachen betrifft«, konstatiert Friedrich Engels stolz wie generös. Um dann gegen die Übersetzung eines gewissen John Broadhouse zu schimpfen: »Ich sage ausdrücklich, daß sie sehr weit davon entfernt ist, eine treue Textwiedergabe zu sein, und dies deshalb, weil Herr Broadhouse keine der von einem Marx-Übersetzer geforderten Fähigkeiten besitzt.« Die Empörung verschafft sich Luft, wenn auch nicht in deftiger Trapattoni-Manier, so doch bestimmt und belehrend: »Um solch ein Buch zu übersetzen, genügt nicht allein eine gute Kenntnis der deutschen Literatursprache. Marx gebraucht gern Alltagsausdrücke und mundartliche Redewendungen; er prägt neue Wörter, er nimmt seine Erläuterungen aus jedem Zweig der Wissenschaft, seine Anspielungen aus den Literaturen von einem Dutzend Sprachen; um ihn zu verstehen, muß einer tatsächlich ein Meister der deutschen Sprache in Wort und Schrift sein und muß auch etwas vom deutschen Leben kennen.«

Der Titel des hier zitierten Engelschen Textes lautet »Wie man Marx nicht übersetzen soll«. Unter dieser Überschrift lädt der Berliner Verein zur Förderung der Edition der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) im Herbst zu einer Konferenz in die deutsche Hauptstadt. Darüber informierte Rolf Hecker vom Vorstand auf dessen Jubiläumsfeier im Domizil der Hellen Panke in Berlin-Prenzlauer Berg, die nicht nur Rückblicke, sondern auch Ausblicke bot.

Vor 35 Jahren, in einer Zeit der »Wirrnisse«, hatte sich der Verein gegründet, zur Bewahrung, Erschließung und Erforschung der Werke von Marx und Engels, vor allem zur Fortsetzung der in den 70er Jahren in der DDR begonnenen (zweiten) Marx-Engels-Gesamtausgabe. Deren Zukunft schien mit den Umbrüchen im Wendeherbst ’89 auch an einer der herausgebenden Einrichtungen, dem Institut für Marxismus-Leninismus (IML) in Berlin, das sich alsbald in Institut für Geschichte der Arbeiterbewegung (IfGA) umbenannte, ungewiss. Vor allem angesichts der herannahenden deutschen »Vereinigung«.

Nachdem am 21. Februar 1990 ein Vereinsgesetz für die (Noch-)DDR erlassen worden war, sei man rasch zur Tat geschritten, erzählt Carl-Erich Vollgraf. Als Erstes habe man ein Konto eingerichtet (kapitalistische Notwendigkeiten warfen ihre Schatten voraus) und am 9. April eine Veranstaltung zwecks Gründung eines Fördervereins der MEGA abgehalten, auf der schon mal eine Satzung beschlossen wurde. Im Mai erfolgte der offizielle Eintrag als Verein, die Gemeinnützigkeit wurde anerkannt.

Eine erste Spende kam von den Marx und Engels zugeneigten ostdeutschen Linken in Gestalt der PDS: 55 Millionen Mark der DDR. Vollgraf bekennt: »Als ich den Scheck von der Bank abholte, schlotterten mir die Knie. Draußen habe ich die Nullen noch mal nachgezählt.« Ja, es war eine beachtliche Summe, die sich freilich nach der Währungsunion halbierte und die dann – schlimmer noch – von der sogenannten Unabhängigen Kommission zur Überprüfung des Vermögens der Parteien und Massenorganisationen der DDR einkassiert wurde.

Der Hiobsbotschaften war damit kein Ende. Das nach dem 3. Oktober 1990 für ganz Berlin zuständige Charlottenburger Amtsgericht konnte oder wollte keinen Eintrag im Vereinsregister bestätigen. Vollgraf hielt bei der Jubiläumsveranstaltung die Urkunde hoch, um dem Publikum zu beweisen, dass ein Eintrag bestätigt worden war. Den um die MEGA; sorgten Wissenschaftlern wurde jedoch von der Westberliner Behörde beschieden, es seien keine Dokumente auffindbar. Beim Umzug vom Ost- zum Westberliner Amt seien vermutlich einige Kisten verloren gegangen. Vollgrafs bittere Bemerkung wurde mit erfahrungsgesättigtem Gelächter quittiert und die Vermutung geäußert, dass es sich um eine konzertierte Aktion gehandelt habe; andere damals gegründete ostdeutsche Vereine hatten ähnliche Erlebnisse erlitten. Das wiederum wollte Vollgraf nicht bestätigen, da nicht belegbar.

Kurzum, die wackeren Recken und Reckinnen der MEGA, die seit Jahr und Tag über den Schriften, Manuskripten, Exzerpten und Briefen von und an Marx und Engels saßen, entzifferten, übersetzten, Hintergründe und Kontexte recherchierten, gaben nicht auf. Sie hatten Bundesgenossen, Mitstreiter im Karl-Marx-Haus in Trier und der Friedrich-Ebert-Stiftung der SPD sowie bei den Moskauer Kollegen, die sich allerdings selbst in der Bredouille befanden, war doch die Sowjetunion am Auseinanderbrechen und damit auch höchste Unsicherheit im wissenschaftlichen Betrieb voraussehbar.

Im November 1990 kam es zur Gründung der Internationalen Marx-Engels-Stiftung (IMES) in Amsterdam, eine wichtige Stütze für das ambitionierte Editionsvorhaben. Und an der Akademie der Wissenschaften der DDR (AdW) war noch vor dem Beitritt der DDR eine MEGA-Kommission gebildet worden, deren Weiterarbeit angesichts der Abwicklung der AdW und der Neugründung der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (BBAW) verteidigt werden musste. Gegen die neuen Sachwalter über Forschung und Lehre in ostdeutschen Landen, unter denen sich nicht wenige befanden, die gleicher Ansicht waren wie der Bundesarbeitsminister Norbert Blüm von der CDU, der 1989 jubelte: »Marx ist tot, Jesus lebt.«

Am 27. März 1991 wurde der Berliner Verein zur Förderung der MEGA-Edition ein zweites Mal in ein Vereinsregister eingetragen, »ordnungsgemäß« ins Charlottenburger. »Es war richtig, dass wir zweigleisig fuhren«, bekräftigt Vollgraf. Also institutionelle Strukturen zur Fortführung der MEGA zu sichern wie auch die internationale Öffentlichkeit zu alarmieren. »Manche meinten, wir sollten nicht so ein Geschrei machen.« Aber Leisetreter waren und sind sie nicht, die Marx-Engels-Forscher. Eine stattliche Zahl prominenter Namen, von Moskau bis Montreal, von Boston bis Bejing, von Tokio bis Turku, ob politisch links, liberal oder konservativ verortete Wissenschaftler rangen der Bundesregierung das Versprechen ab, die MEGA² nicht sterben zu lassen. Die Edition wird seit 1998 »auf der Grundlage revidierter Editionsrichtlinien« fortgesetzt. Als Herausgeberin firmiert die IMES, für die praktische Realisierung zeichnet die MEGA-Arbeitsstelle an der BBAW verantwortlich. Sie bündelt Zuarbeiten aus aller Welt. Und die MEGA ist auch in allen großen Bibliotheken der Welt präsent.

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Eigentlich sollte das Mammutprojekt in diesem Jahr vollendet sein. Ob dies in fünf Jahren gelungen sein wird, wenn eine erneute Evaluierung der MEGA ansteht, ist zu bezweifeln. Hecker sieht aber »Licht am Ende des Tunnels« und ist fest überzeugt: »Die MEGA wird vollendet.« Wenngleich mit ein paar Abstrichen. Von den 114 geplanten Bänden sind bis dato 65 Bände erschienen. Die klassische Buchausgabe wird durch digitale Text-, Apparat- und Registerkumulationen ergänzt, vormals auch in Print. Die Digitalisierung ermöglicht aber immerhin komfortablere Rechercheoptionen. Dergleichen bietet auch der Verein zur Förderung der MEGA auf seiner Hompage, wie Hecker stolz verkündete. Dort sind inzwischen alle Artikel und Aufsätze der vom Verein herausgegebenen Publikationen bis zum Jahr 1991 zu lesen. Auch eine Literaturübersicht von Publikationen zu Marx und Engels seit den 1970er Jahren ist dort zu finden. Gearbeitet wird noch an einer Jahreschronik zu Leben und Werk der beiden, für die Hecker Interessenten explizit zur Mitarbeit aufrief.  

Der heroische Kampf des Vereins seit nunmehr 35 Jahren ist völlig uneigennützig, sein Einsatz als »ideelle Zulieferer« zur MEGA, unter anderem mit seinen Publikationsreihen, die »Beiträge zur Marx-Engels-Forschung« sowie »Wissenschaftliche Mitteilungen«, erfolgt ehrenamtlich. Von den einstmals über 100 Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen, die zu Zeiten der DDR eine sichere Arbeitsstelle an Institutionen in Berlin, Leipzig, Halle und Erfurt innehatten, bezogen knapp ein Dutzend nach 1990 festes Gehalt in ihrer Berufung. Trotzdem forschten viele weiter, bestückten die laufenden Bände, exakter die vier Abteilungen der Edition: Werke, Artikel, Entwürfe; das »Kapital« und Vorarbeiten; Briefwechsel; Exzerpte, Notizen und Marginalien. Noch in diesem Jahr wird der letzte Band zur »Neuen Rheinischen Zeitung« vollendet sein, das Lebenswerk von Françoise Melis, 1942 in Toulouse als Sohn deutscher Résistancekämpfer geboren und natürlich Vereinsmitglied.

Sie alle, wie auch viele nicht genannte Mitstreiter, dürften jedenfalls den Engelschen Erwartungen an eine Transkription von Marxens Texten genügen. Vorstandsmitglied Michael Heinrich lobte eine im vergangenen Jahr bei Princeton University Press erschienene Übersetzung des »Kapitals« ins Amerikanische. Paul Reitter ist dafür vom Goethe-Institut für den Helen-und-Kurt-Wolff-Übersetzerpreis 2025 auserkoren worden. Gerade das »Kapital« habe, so Heinrich, in den vergangenen zehn Jahren zahlreiche Neuübersetzungen rund um den Globus erfahren.

Apropos: Besonders viele Anfragen erhält der Berliner Verein zur Förderung der MEGA-Edition von den chinesischen Kollegen; sie betreffen insbesondere die Briefeditionen. In China sollen 60 Bände der Marx-Engels-Gesamtausgabe erscheinen, bisher liegen 36 vor. Da gibt es noch viel zu tun, auch für die Berliner Freunde von Marx und Engels.

Marxforschung – Berliner Verein zur Förderung der Mega-Edition e.V.

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