Eine Stadt sieht Blau: Bielefeld und ihre Arminia

Weil die Arminia viele Abstürze erlebte, ist die Bindung zum Verein in Bielefeld und Ostwestfalen eine besondere

  • Maik Rosner, Bielefeld
  • Lesedauer: 5 Min.
Blaue Pyroshow der Bielefelder Fans beim letzten Ligaspiel, als die Drittligameisterschaft gewonnen wurde
Blaue Pyroshow der Bielefelder Fans beim letzten Ligaspiel, als die Drittligameisterschaft gewonnen wurde

Thomas Steinbicker kann manch eine Anekdote zum Pokalfinalisten Arminia Bielefeld erzählen, darunter jene zur wilden Partynacht im Wintertrainingslager 1997 auf Zypern. Der damals 19 Jahre alte Steinbicker und ein Freund waren als einzige Arminia-Fans vor Ort und tanzten mit den Bielefelder Bundesligaspielern auf der Straße Sirtaki. Dass davon keine Bilder überliefert sind, lag an Stefan Kuntz, der ein halbes Jahr zuvor als Europameister zur Arminia gewechselt war und zu Beginn der Partynacht die Batterien aus den Fotokameras der beiden Fans einkassiert hatte.

Die Alm im Mondschein

Eine andere Anekdote handelt davon, wie Steinbicker in den frühen 90ern mit Freunden mehrmals in Nächten vor Heimspielen die Torpfosten auf der Bielefelder Alm in den Vereinsfarben Schwarz-Weiß-Blau anmalte. Bei einem Versuch ließen sie ihre Farbeimer zunächst auf einem Spielplatz zurück, weil nachts im Stadion das Flutlicht brannte. Als sich die Schüler ins Stadion geschlichen hatten, machten sie Bekanntschaft mit einem Kripo-Beamten. »Wir haben ihm erklärt, dass wir große Fans der Arminia sind und die Alm einmal im Mondschein bewundern wollten«, erzählt Steinbicker. Der Polizist habe für dieses romantische Bedürfnis Verständnis gezeigt. Die Pfostenmaler wurden nie gefasst.

Es sind nicht immer solch spektakuläre Anekdoten, die die 330 000 Einwohner in Bielefeld zur Arminia erzählen können. Aber irgendeine Geschichte verbindet viele mit dem Verein. Allein schon, weil man in der Stadt an der Arminia gar nicht vorbeikommt. Die Alm steht im Herzen Bielefelds, in einem Wohngebiet zwischen dem Zentrum und der Universität. In Berlin entspräche das dem Kiez in Friedrichshain, in Hamburg dem Schanzenviertel und in München dem Glockenbachviertel. Mehr Nähe zu den Menschen geht räumlich kaum.

Sportunterricht bei Fußballprofis

Bei Abendspielen ist das Flutlicht aus vielen Teilen der Stadt zu sehen, oft lässt sich schon das Raunen des Publikums vernehmen. Der Verein prägt das Stadtbild auch durch Fahnen, Graffiti oder Aufkleber. Es gibt sogar eine Arminia-Tankstelle, die »12. Mann« heißt und in den Vereinsfarben gestaltet ist. Generationen von Teenagern gingen direkt neben dem Stadion zur Schule und zum Sportunterricht in die Almhalle, in der sich früher auch die Profikicker umzogen. Das verbindet. Manchmal so sehr, dass einer Mutter, die als Burgwartin arbeitete, die Schlüssel stiebitzt wurden und 1995 zum Aufstieg in die zweite Liga Arminias Fahne auf dem Turm der Sparrenburg gehisst wurde.

Aus dem damaligen Jugendstreich entwickelte sich eine offizielle Tradition. Anlässe gab es ja genug. Seit 1970, als es Bielefeld in die erste von bislang 19 Bundesliga-Spielzeiten geschafft hatte, häufte der Verein 23 Auf- und Abstiege zwischen erster, zweiter und dritter Liga an. Ständig pendelt er zwischen den Extremen: zum Aufstieg und danach zur maßgeblichen Beteiligung am Bundesligaskandal. Das Maximum waren zwei achte Plätze in der Bundesliga 1983 und 1984. Zwischen 2022 und 2024 wäre Bielefeld beinahe dreimal hintereinander abgestiegen – von der Bundesliga bis in die Regionalliga.

Zweite statt vierte Liga

Und nun: Ein Jahr nach der Rettung vor der Viertklassigkeit gelingt der Aufstieg in die zweite Liga und mit dem Einzug ins Pokalfinale der größte Erfolg. Vier Bundesligisten schaltete das Team von Trainer Mitch Kniat auf dem Weg nach Berlin aus, im Halbfinale Meister und Pokalsieger Leverkusen mit 2:1. Bayers Kader ist fast 80 Mal so viel wert wie der der Arminia.

Spätestens seit zehn Tagen sieht die ganze Stadt Blau – seitdem das Hermannsdenkmal, Deutschlands größte Statue, ein 130 Quadratmeter großes Arminia-Trikot trägt. Sollte Bielefeld am Sonnabend auch noch das Pokalfinale gegen den VfB Stuttgart gewinnen, würde der Verein in der kommenden Saison in der Europa League spielen. Es ist also auch eine Geschichte für alle Fußballromantiker. Die große Leidenschaft der eigenen Fans wird bei der Arminia so erklärt: »Weil wir wissen, wie es sich anfühlt, unten zu stehen, sind wir in der Lage, Siege zu feiern wie andere nur Titelgewinne.«

Mehrfach am Ende

Uli Zwetz hat fast alle Ausschläge miterlebt, zunächst als Zuschauer, später als Reporter von Radio Bielefeld. Seit 1996 hat der 64-Jährige nur zwei Spiele verpasst. Ergründen kann aber auch er die Ambivalenz des Klubs nicht, der finanziell schon mehrfach am Ende war. Dabei passt das gar nicht zur bodenständigen Mentalität in der durchaus wohlhabenden Region des Mittelstands. »Warum bekommt man diese ostwestfälische Stabilität bei der Arminia nicht rein?«, fragt Zwetz. Gute Voraussetzungen wären da. Wie die Menschen stehen auch die Unternehmen der Region fest hinter dem Verein, darunter Großkonzerne wie Dr. Oetker und Hauptsponsor Schüco. Ein gutes Beispiel dafür war das 2017 ins Leben gerufene Bündnis Ostwestfalen, in dem sich Unternehmen zusammenschlossen, um die hochverschuldete Arminia vor der Insolvenz zu bewahren.

Über den Verein zeigt sich ein ausgeprägter Lokalstolz. Befragt man dazu den Soziologie-Professor Thomas Faist von der Uni Bielefeld, begründet er das leidenschaftliche Verhältnis vieler Menschen zur Arminia auch mit dem großen sozialen Engagement des Vereins durch Kooperationen mit Behinderteneinrichtungen, Schulen und im Kunstbereich. »Arminia ist sehr präsent in der Stadtgesellschaft«, sagt Faist, er spricht von »Vergemeinschaftungsprozessen« sowie einer »gefühlten Zusammengehörigkeit aller Beteiligten«.

Jetzt also das Pokalfinale in Berlin, wo Zehntausende Bielefelder Fans erwartet werden. Der inzwischen 47-jährige Steinbicker wird im Olympiastadion sein und darauf hoffen, dass dieser herrlich unperfekte Verein noch eine Überraschung schafft und seinen ersten großen Titel gewinnt, drei Wochen nach dessen 120. Geburtstag.

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