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Belagern, beschießen, vertreiben
Ungeachtet internationaler Kritik setzt die israelische Regierung ihre Vertreibungspläne in Gaza weiter um
Mit schweren Luftangriffen und einer Bodenoffensive in Richtung der Städte Khan Younis und Rafah setzt die israelische Armee ihren Vormarsch im Gazastreifen fort. Nach Angaben des palästinensischen Gesundheitsministeriums starben seit Beginn der Operation »Gideons Streitwagen« mehr als 450 Menschen, die meisten davon Frauen und Kinder. Die israelische Menschenrechtsorganisation B’tselem veröffentlicht aus Protest gegen das Bombardement der Zivilbevölkerung die tägliche Opferzahl und bestätigt die palästinensischen Angaben. B’tselem fordert zusammen mit anderen Organisationen Ministerpräsident Benjamin Netanjahu auf, die »ethnische Säuberung des Gazastreifens« sofort zu beenden.
Doch stattdessen hat der Regierungschef am Mittwoch den Abzug der israelischen Verhandlungsdelegation aus Doha angeordnet und setzt damit auf weitere Eskalation. In Katar wurde über die Freilassung der 20 angeblich noch lebenden israelischen Hamas-Geiseln verhandelt.
Auch wenn die Kritik in In- und Ausland zunimmt, die Angehörigen der Geiseln und freigelassene Geiseln der israelischen Regierung vorwerfen, den Krieg nur noch als Selbstzweck und zur Machterhaltung fortzusetzen – Netanjahu und seine radikalen Koalitionspartner setzen in aller Ruhe ihren seit Langem bestehenden Plan durch: das Ende der Idee einer Zwei Staaten-Lösung und die Vertreibung der Zahl der Palästinenser.
Auf die mittlerweile auch aus befreundeten Ländern kommende harsche Kritik an der Bombardierung und Blockade von Gaza reagiert die Netanjahu-Regierung auf den ersten Blick routiniert. Gerade ehemalige Kolonialmächte sollten verstehen, dass sich Israel von niemandem vorschreiben lassen werde, wie es sich zu verteidigen habe, so Außenminister Israel Katz während der »Beshewa«-Konferenz in New York. Zuvor hatten Frankreich, Großbritannien und Kanada mit Sanktionen gedroht und die EU die Verhandlungen mit Israel über ein Freihandelsabkommen gestoppt, um das Ende der seit dem 3. März bestehende Blockade von Hilfslieferungen nach Gaza durchzusetzen. Die spanische Provinz Katalonien schloss am Mittwoch aus Protest gegen die Lage der Zivilbevölkerung in Gaza ihre Vertretung in Tel Aviv. Israelische Medien sprechen von der größten diplomatischen Krise seit der Gründung Israels.
Den scharfen Tonfall von Katz gegenüber den engsten Partnern sehen viele Beobachter als Anzeichen dafür, dass man in Jerusalem nicht bereit ist, vom bestehenden Plan abzurücken. Die geplante »freiwillige Ausreise« der über zwei Millionen Bewohner Gazas und die Übernahme des Westjordanlandes wird abwechselnd mit dem Einfluss des Iran und mit der weitverbreiteten Unterstützung der Hamas begründet. Beides macht für viele Israelis ein künftiges Zusammenleben mit den Palästinensern unmöglich. Trotz aller politischen Differenzen ähneln sich die Vorstellungen radikaler und oppositioneller Kreise davon, wie es in Gaza nach dem Krieg aussehen sollte.
»Dieser Moment ist auch eine einmalige Chance.«
Benny Gantz
Israelischer Oppositionspolitiker
Benny Gantz, der wichtigste Widersacher Netanjahus in der Knesset, sagte auf der New Yorker »Besheva Jerusalem Konferenz« zwar, die Freilassung der Geiseln sei Priorität. »Doch dieser Moment ist auch eine einmalige Chance, die von Donald Trump propagierte freiwilligen Ausreise der Bevölkerung von Gaza umzusetzen.«
Wie dies umgesetzt werden soll, erklärte der radikale Politiker Mosche Feiglin von der Zehut Partei auf dem TV-Sender Channel 14. Die Lieferung von Nahrungsmitteln müssen an die Ausreise verknüpft werden. Der Feind sei nicht nur die Hamas. »Jedes Kind, jedes Baby in Gaza ist ein Feind.« Benjamin Netanjahu kündigte an, dass die Bevölkerung in kleine Enklaven gelenkt werden soll, am Mittwoch warfen israelische Kampfflugzeuge Flyer ab, auf denen in Form von Koranversen die sofortige Flucht in »Sicherheitsbereiche« gefordert wird. Andernfalls werde geschossen.
Schüsse fielen am Mittwoch auch in Jenin, der für ihre bewaffneten Widerstandsgruppen bekannten Stadt im äußersten Norden des Westjordanlandes. Diplomaten aus einem Dutzend Länder waren in die Nähe des von der israelischen Armee geräumten und zerstörten Flüchtlingslagers gereist. Wie üblich bei derartigen Besuchen war die Besatzungsarmee informiert worden. Doch als Soldaten befanden, die Gruppe habe sich den Zerstörungen zu sehr genähert, schossen sie auch über die Köpfe deutscher Diplomaten hinweg. Während einige westliche Länder protestieren und die israelischen Botschafter einbestellten, wurde die Aktion unter Siedlern und rechten Kreisen in Israel gefeiert.
»In diesen Kreisen glaubt man bereits kurz vor dem Ziel zu sein«, sagt Issa Amro, ein palästinensischer Aktivist aus der Stadt Hebron. »Nämlich die Kontrolle des gesamten Westjordanlandes durch die Schaffung kleiner, voneinander getrennter palästinensischer Enklaven.« Aus rund 300 Kontrollpunkten vor drei Jahren seien nun 900 geworden, berichtet Amro. »Viele Kontrollpunkte werden willkürlich geöffnet und geschlossen, selbst zur täglichen Arbeit zu kommen sei für viele eine unlösbare Herausforderung geworden. B'tselem bestätigt auch die von Amro beklagte Zunahme von Zerstörungen palästinensischer Häuser. «Im Schatten der humanitären Katastrophe von Gaza wird das Hebron-Modell gerade auf das gesamte Westjordanland übertragen.»
In dem aus einem palästinensischen und einem kleinen jüdischen Teil bestehende Hebron wurde die Kontrolle der Bewegungsfreiheit von Palästinensern über Jahre trainiert. Finanzminister Bezalel Smotrich bestätigt indirekt die These Issas und anderer palästinensischer Menschenrechtsaktivisten. Bis zum Ende der aktuellen Legislaturperiode werde man das Westjordanland annektieren, so Smotrich letzte Woche. Hier hat er im Jahr 2017 seinen «Unterdrückungsplan» entwickelt, der als Blaupause für das aktuelle Geschehen gilt. «Die rund um Hebron lebenden radikalen Siedler hatten vor zehn Jahren nur die Expansion ihrer Städte, jetzt bestimmen sie über das Schicksal einer ganzen Region.»
Die Zeitung «Israel Maariv» meldet, dass Smotrich im Gegenzug für die Zustimmung zu der von ihm abgelehnten minimalen humanitären Hilfe für die Bewohner von Gaza von Netanjahu das Versprechen von 22 neuen Siedlungen erhielt. Während die aus ihren Häusern im Westjordanland Vertriebenen aufgefordert werden, nach Jordanien auszuwandern, scheitert die ethnische Säuberung von Gaza bisher an der Bereitschaft anderer Länder, die Vertriebenen aufzunehmen.
In Gaza operiert die israelische Armee derzeit wie im so genannten «Plan der Generäle» skizziert. Ihm zufolge soll die Bevölkerung regelrecht belagert und in kleine Gebiete getrieben werden. Im Rest Gazas wird die Dahiya-Doktrin angewendet. Die nach einem von der Hisbollah dominierten Vorort von Beirut benannte Strategie ist simpel. Durch die massive Zerstörung ziviler Infrastruktur soll sich die Bevölkerung von Milizen wie der Hisbollah oder der Hamas abwenden. Doch Radikalen wie Smotrich oder Finanzminister Ben Gvir geht das nicht weit genug.
Laut US-Sender NBC soll eine Luftbrücke nach Bengasi in Libyen eingerichtet werden, dann sollen die Palästinenser auf verschiedene Städte verteilt werden.
In Libyen sorgt derzeit ein von dem amerikanischen TV-Sender NBC veröffentlichter Plan zur Umsiedlung von einer Million Palästinensern für Unmut. In der Vorwoche hatten NBC-Journalisten behauptet, die Trump-Regierung führe sogar bereits Gespräche mit libyschen Politikern über die konkrete Umsetzung des Plans. Als Ausgleich für die Aufnahme der Vertriebenen aus Gaza sollen die nach dem Sturz von Muammar Gaddafi eingefrorenen staatlichen Gelder zurück nach Libyen überwiesen werden, die das Gaddafi-Regime auf amerikanischen Banken deponiert hatte. Laut NBC soll eine Luftbrücke nach Bengasi eingerichtet werden, dann sollen die Menschen auf verschiedene Städte verteilt werden.
NBC beruft sich auf Gespräche mit gut informierten Quellen aus Washington. Ein Sprecher des US-Außenministeriums bestritt die Existenz eines solchen Plans ebenso wie die US-Botschaft für Libyen, die aus Sicherheitsgründen von Tripolis nach Tunis verlegt wurde.
Viele Libyer glauben, dass die Veröffentlichung des Plans zu diesem Zeitpunkt als Testballon für die öffentliche Meinung fungiert, aber dennoch ernst gemeint ist. Die radikale Szene Israels brachte bereits Somaliland und den Sudan als Aufnahmeländer ins Spiel. Doch konkrete Verhandlungen hat es mit den dortigen Regierungen offenbar noch nicht gegeben.
Nun also Libyen, das mit nur sieben Millionen Einwohnern am dünnsten besiedelte Land Nordafrikas. Laut dem westlibyschen Innenminister Emad leben allerdings derzeit über zwei Millionen Migrant:innen im Land. Die meisten davon will er in ihre Heimatländer abschieben.
Erstmals tauchte die Idee, die politische Spaltung des Bürgerkriegslands für die Umsetzung der ethnischen Säuberung das Gazastreifens zu nutzen, vor einigen Monaten in einem Artikel in der «Times of Israel» auf. In dem Text wird auf Kontakte israelischer Militärbehörden zu der «Libyschen Nationalarmee» von Khalifa Haftar verwiesen, aber auch über konkrete Details spekuliert, zum Beispiel über die für die Aktion nötigen 1173 Flüge von Ägypten nach Bengasi.
Sowohl in Tripolis als auch in Bengasi sind die Meinungen zu dem Plan eindeutig. «Niemand in Libyen wird es wagen, sich zum Handlanger eines Genozids zu machen», sagt Moutaz Mathi, ein Journalist aus Tripolis. Nach mehreren Kriegen seit 2011 befürchten viele zudem auch, dass sich neue radikale Milizen im Land niederlassen könnten.
Israels Finanzminister Smotrich dürfte die Skepsis egal sein. Die ersten 300 Palästinenser hätten den Grenzübergang bei Rafah bereits überquert, freute er sich letzte Woche.
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