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Was Schülern guttut
Kinder, die ab dem Jahr 2026 eingeschult werden, haben einen Anspruch auf Ganztagsbetreuung. Gute Angebote gibt es bereits, aber beim Ausbau stockt es
Die Nachmittagsbetreuung bestimmt mittlerweile den Alltag der meisten Grundschulen. Während Horte der Kinder- und Jugendhilfe im Osten auf eine lange Tradition zurückblicken können, haben in den letzten Jahren auch die westlichen Bundesländer ihre Angebote deutlich erweitert. »Doch noch immer kommt es nicht selten vor, dass Eltern eine Ungewissheit haben, ob sie zum neuen Schuljahr für ihr Kind einen Platz in der Nachmittagsbetreuung bekommen«, sagt Eva Reiter, Vorsitzende des Ganztagsschulverbands, dem »nd«. Für zahlreiche Familien bleibt die zentrale Frage ungelöst: Wie lassen sich Beruf und Kinderbetreuung vereinbaren?
Um diese klaffende Betreuungslücke zu schließen, hat die ehemals schwarz-rote Bundesregierung vor vier Jahren einen Rechtsanspruch für einen Ganztagsplatz auf den Weg gebracht, der ab dem Schuljahr 2026/27 schrittweise in den Grundschulen eingeführt wird. Vorgesehen ist ein Umfang von acht Stunden an fünf Werktagen.
Ganztägige Bildungsangebote können, wenn sie gut umgesetzt werden, einen spürbaren Lerngewinn für Kinder haben. »Wir haben eine riesige Chance, die Grundschulen zu öffnen«, sagte Doreen Siebernik, stellvertretende Vorsitzende der Gewerkschaft GEW, dem »nd«. »Vor allem Kinder aus bildungsbenachteiligten Milieus könnten davon profitieren.« Um die Weiterentwicklung der Grundschule bestmöglich zu nutzen, brauche es aber pädagogische Konzepte, die über eine Beaufsichtigung hinausgehen. Die neue Bundesregierung hat dies mit auf ihre Agenda gesetzt. Sie möchte »mehr Qualität, mehr Plätze und echte Unterstützung für mehr Bildungsgerechtigkeit« erreichen.
Die Ganztagsbetreuung an Grundschulen ist eines der wichtigen Themen auf dem GEW-Kongress, der bis Samstag in Berlin andauert. Vor allem Kinder aus bildungsbenachteiligten Milieus könnten von der Ganztagsbetreuung profitieren, sagte die Vizevorsitzende Doreen Siebernik dem »nd«. Nötig seien pädagogische Konzepte, die über eine Beaufsichtigung hinausgehen.
Die GEW selbst hat 15 Eckpunkte für einen »guten Ganztag« erarbeitet. Diese behandeln unter anderem die Zusammenarbeit zwischen Lehrkräften und Fachkräften der Kinder- und Jugendhilfe sowie die Schaffung ausreichender Spiel- und Sozialräume, die sich an den Bedürfnissen der Kinder orientieren.
In der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft sind insbesondere Beschäftigte organisiert, die in Schulen, Kitas, Hochschulen und anderen pädagogischen Einrichtungen arbeiten. Die Mitgliederzahl ist seit einiger Zeit relativ stabil: Zuletzt waren 27 300 Menschen in der GEW organisiert und damit etwas mehr als vor zehn Jahren.
Auf dem Gewerkschaftstag ist die Lehrerin Maike Finnern mit knapp 94 Prozent wieder zur Vorsitzenden gewählt worden. rt
Die Umsetzung stockt jedoch erheblich. »Die Fortschritte der letzten Jahre bleiben weit hinter den Erwartungen zurück«, kritisiert Tomi Neckov, stellvertretender Bundesvorsitzender des Verbands Bildung und Erziehung, im Gespräch mit dem »nd«. »Mehr als ein Drittel aller Schulleitungen sieht sich außerstande, den kommenden Rechtsanspruch zu erfüllen.« Personalnot und Platzmangel belasten nach wie vor zahlreiche Einrichtungen. Ein Bericht der Bundesregierung vom Dezember 2024 geht davon aus, dass zum Stichtag am 1. August 2026 bundesweit zwei Drittel der Eltern von einer Ganztagsbetreuung Gebrauch machen möchten. Daraus ergibt sich ein zusätzlicher Bedarf an 342 000 Plätzen.
Die räumlichen Gegebenheiten entpuppen sich oft als hinderlich bei der Umsetzung des Ganztags. »Viele Schulen sind für einen Unterricht im Klassenverband ausgerichtet, aber nicht für ganztägige Betreuungsformate«, erläutert Neckov. »Es fehlen Aufenthaltsräume und manchmal auch Mensen. In manchen Fällen weichen Schulen für die Mittagsverpflegung sogar auf kirchliche Gemeinderäume aus.« Als Problem stelle sich heraus, dass es keine verbindlichen Standards für eine räumliche Ausstattung gibt, sondern nur Empfehlungen.
Gelungene Ganztagsschulen zeichnen sich durch »eine aufgelockerte und einladende räumliche Struktur« aus, erklärt Stephan Bloße, Sozialwissenschaftler von der TU Dresden, gegenüber dem »Deutschen Schulportal«. »Dazu gehören auch Sitzgruppen außerhalb des Klassenzimmers, Räume für selbstständiges Lernen – wie etwa eine Bibliothek – und natürlich ein Außengelände mit Sport- und Freizeitmöglichkeiten.« Bloße, der seit Jahren in Sachsen eine Langzeituntersuchung zur Ganztagsbetreuung durchführt, zieht ein nüchternes Fazit: »Viele Schulen sind in dieser Hinsicht stark eingeschränkt.«
»Wir haben eine riesige Chance, die Grundschulen zu öffnen.«
Doreen Siebernik Stellvertretende Vorsitzende der GEW
Doch selbst die beste Ausstattung bleibt wirkungslos ohne tragfähige pädagogische Konzepte, gibt Doreen Siebernik zu bedenken. In der Bildungslandschaft haben sich mit dem Ausbau des Ganztags in den vergangenen Jahren verschiedenste Ganztagsmodelle entwickelt. Das Spektrum reicht von lockeren Nachmittagsbetreuungen mit Hausaufgabenhilfe bis zu ganzheitlichen Konzepten, die Vor- und Nachmittag als pädagogische Einheit betrachten. Schulleitungen genießen dabei weitreichende Entscheidungsfreiheit. Die Vorgaben variieren je nach Bundesland, und die Kultusministerkonferenz hält sich mit detaillierten Regelungen zurück. Sie fordert lediglich, dass ein konzeptioneller Zusammenhang zwischen den Ganztagsangeboten und dem regulären Unterricht bestehen soll.
Der Zwischenbericht der Bundesregierung vom Dezember vorigen Jahres beschreibt zudem eine angespannte Situation der Personallage: Die wachsende Nachfrage nach Ganztagsbetreuung sprengt die Kapazitäten qualifizierter Fachkräfte. Schon heute arbeitet in jeder zweiten Einrichtung Personal ohne pädagogische Qualifikation oder entsprechende Fortbildung in der außerunterrichtlichen Betreuung – ein Notbehelf mit fragwürdigen Konsequenzen. Der Bericht warnt davor, »dass der Fachkräftemangel zunehmend zu einer prekären Professionalität führt und verstärkt nur noch Aufsichtsaufgaben wahrgenommen werden können«.
Eva Reiter, selbst Ganztagskoordinatorin an einer Hamburger Grundschule, sieht jedoch auch Chancen: »Auch Honorarkräfte können hervorragende Arbeit an der Schule leisten. Wenn ein Tischler beispielsweise mit Kindern zusammen Holzarbeiten anfertigt, kann das für sie ein Erlebnis sein.« Trotzdem sei eine pädagogische Weiterbildung hilfreich, räumt sie ein. In Hamburg werden Quereinsteiger durch das Programm Rückenwind geschult. »Da geht es um Fragen des Rollenverständnisses, der Aufsichtspflicht, aber ebenso um einen Umgang mit Nähe und Distanz«, erzählt sie. Auch Weiterbildungsinitiativen des Bundes wollen hier ansetzen und gegensteuern.
Beim Übergang zur Ganztagsschule entsteht vielerorts ein umfangreiches Geflecht von Kooperationen. Manchmal arbeiten Einrichtungen mit einer Musikschule zusammen, manchmal mit einem Sportverein. Oft ist die Nachmittagsbetreuung auch von einem freien Träger übernommen worden. Dann sei eine enge Absprache im Rahmen von festen Kooperationszeiten wichtig, so Bloße. »Ein externer Nachhilfelehrer für Mathe zum Beispiel findet am Nachmittag oft keinen Ansprechpartner mehr in der Schule und weiß nicht, welches Problem im Unterricht aufgetaucht ist.« An nahezu jeder zweiten Ganztagsschule fehlen laut Bundesregierung gemeinsame Reflexionszeiten für außerunterrichtliches Personal und Lehrkräfte. »Wenn ich an eine Schule komme und mich für den Ganztag interessiere, sehe ich meist auf den ersten Blick, ob es eine echte Kooperation gibt oder ob diese nur auf dem Papier steht«, berichtet Bloße aus seiner Praxis.
Ein entscheidender Qualitätsfaktor sei der durchdachte Wechsel zwischen Unterricht und darüber hinaus gehenden Angeboten, erklärt Reiter. Konzentrationsphasen müssten sich mit Entspannungen abwechseln, es brauche Zeit für Bewegung und Ruhephasen. »Wenn es gelingt, im Schultag einen Rhythmus zu finden, dann kann die Ganztagsschule gelingen«, unterstreicht die Pädagogin.
Eine gute Ganztagsschule bietet ein vielfältiges buntes Bildungsangebot, ergänzt Nicole Gohlke, bildungspolitische Sprecherin der Linkspartei, »das sowohl die sozialen und sprachlichen Kompetenzen, als auch künstlerisch-ästhetisch, sportlich, musisch, kulturell und kreativ, fördert.« Wichtig sei, erklärt sie dem »nd«, dass ein unterstützendes Umfeld geschaffen werde, in dem ungleiche Startchancen ausgeglichen werden. In dieser Zielsetzung ist die Schnittmenge der demokratischen Parteien groß.
Zur Bewältigung dieser Mammutaufgabe stellt der Bund den Ländern und Kommunen bis voraussichtlich Ende 2029 insgesamt 3,5 Milliarden Euro für den infrastrukturellen Ausbau der Ganztagsbetreuung bereit. Der langfristigen Finanzierung dient eine anschließende jährliche Beteiligung von 1,3 Milliarden Euro an den laufenden Kosten der Ganztagsschulen. Länder und Kommunen bräuchten Möglichkeiten, um Angebote weiter auszubauen, sagte Bundesfamilienministerin Karin Prien (CDU) anlässlich einer geplanten Verlängerung der Umsetzungsphase Anfang der Woche. Siebernik freut sich, dass der erste Gesetzentwurf der neuen Regierung einer zum Ganztagsausbau ist. Zweifel gibt es aber, ob die Mittel ausreichen: »Angesichts des desolaten Zustandes an vielen Schulen brauchen wir einen umfassenden Infrastrukturausbau«, erklärt Neckov. Der Ganztagsschulverband sieht es ähnlich wie die GEW – ein Sondervermögen Bildung in Höhe von mindestens 100 Milliarden Euro sei nötig, um den enormen Investitionsstau in den Schulen aufzulösen. Schließlich brauchen Kinder und Jugendliche ein Umfeld, das sie zum Lernen einlädt.
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