Trapez ohne Netz

Antje Weithaas und Dénes Várjon verlangen Beethovens Sonaten alles ab

  • Berthold Seliger
  • Lesedauer: 5 Min.
Kein Halten mehr: Dénes Várjon interpretiert Beethoven.
Kein Halten mehr: Dénes Várjon interpretiert Beethoven.

Gegenüber Beethovens Sinfonien, seinen 32 Klaviersonaten oder den Streichquartetten führen die zehn Violinsonaten des Meisters ein Schattendasein. Sicher, die »Kreutzer«-Sonate op. 47 ist regelmäßig zu hören, hin und wieder auch die »Frühlings«-Sonate op. 24. Aber es gibt nicht ein Zehntel der Einspielungen der Klaviersonaten, und im Konzert sind sie höchst selten zu erleben.

Umso größer die Freude, dass Antje Weithaas, Berliner Solistin und Professorin an der Hanns-Eisler-Musikhochschule, die zehn Violinsonaten, die sie in den letzten zwei Jahren mit ihrem kongenialen Klavier-Partner Dénes Várjon eingespielt hat, nun auch an drei Tagen in Berlins schönstem Raum für Kammermusik, dem Pierre-Boulez-Saal, live präsentiert.

Neun seiner zehn Violinsonaten schrieb Beethoven in einem relativ kurzen Zeitraum, zwischen 1797 und 1803, die zehnte entstand 1812. Es ist also nicht so, dass ihn dieses Setting sein Leben lang beschäftigt oder doch zumindest begleitet hätte, wie es bei den Klaviersonaten oder den Streichquartetten der Fall war. Und doch lässt sich in den nur fünf Jahren von der ersten bis zur »Kreutzer«-Sonate eine immense kompositorische Entwicklung betrachten. Die Sonaten werden zwar sämtlich als Klaviersonaten »mit« einer Violine bezeichnet, doch wie schon bei Mozarts Violinsonaten, die Beethoven bereits in seinen Bonner Jahren kennengelernt hatte, geht es hier um einen dialogischen Austausch von Klavier und Violine – und im Titel der »Kreutzer«-Sonate ist dann die Violine als »obligat«, also unentbehrlich, genannt.

Beethovens Ideal-Interpretin? Antje Weithaas.
Beethovens Ideal-Interpretin? Antje Weithaas.

Beethoven schätzte den französischen Geiger und Komponisten Rodolphe Kreutzer sehr, der mit Cherubini, Gossec oder Méhul zu den unabhängigen Komponisten gehörte, die für die Französische Revolution Partei nahmen und in den Jahren 1789 bis 1794 zur Blüte französischer Revolutionsmusik beitrugen – Musik, die über die gedruckten Magazine des neuen Pariser Staatsverlags für Musik in ganz Europa verbreitet wurde.

Beethoven hat in seinen Werken immer wieder französische Revolutionshymnen oder Märsche zitiert. Zwischen dem Thema von Beethovens Erster Sinfonie und der »Marathon«-Ouvertüre Kreutzers, die in der 9. Ausgabe des Pariser »Magasin de Musique« enthalten war, gibt es zum Beispiel eine »evidente« Ähnlichkeit »in melodischer und rhythmischer Beziehung, im Signalcharakter und in der Wiederholung der Hauptphrase auf der zweiten Stufe« (Arnold Schmitz).

Ganz sicher: Kreutzer, dieser »gute liebe Mensch«, hatte sich »tief in sein Herz gegraben«, wie Beethoven in zwei Briefen schrieb. Allein, uraufgeführt hat die berühmte Violinsonate A-Dur op. 47 (mit dem Meister am Klavier) im Mai 1803 der für sein »extravagantes Spiel« berühmte 24-jährige Brite George Augustus Polgreen Bridgetower, einer der berühmtesten Geiger seiner Zeit, dessen Vater aus der Karibik, die Mutter aus Polen stammte. Beethoven hat auf dem Autografen das Werk als »Sonata mulattica« bezeichnet. Erst als sich die beiden Musiker aus privaten Gründen entzweiten, widmete Beethoven das Werk Rodolphe Kreutzer.

»Sonata mulattica« – keine schlechte Bezeichnung für dieses wilde, alle Dimensionen mutig sprengende Werk, eine Komposition der »Vielheit«, wie bereits der von Beethoven verehrte Kant formulierte und gut zwei Jahrhunderte später der karibische Philosoph Édouard Glissant.

nd.DieWoche – unser wöchentlicher Newsletter

Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.

Im großen ersten Satz, der ungewöhnlich mit einem Solo der Violine eröffnet wird, erleben wir eine Zweiteilung der großen Durchführung wie in der »Eroica«, der »Appassionata«, der Waldstein-Sonate, aber auch in der Neunten Sinfonie. Immer dann, wenn Beethoven eine derartige Durchführungs-Zweiteilung komponiert hat, war deren erster Teil laut Adorno »mehr schweifend, phantasierend«, der zweite dagegen fest, »über ein Modell gebaut, objektiviert«, aber vor allem immer mit der »Wendung: nun soll es sei«. In der Kreutzer-Sonate besteht diese Wendung aus einem dritten dramatischen, marschartigen Thema – Beethoven ringt um Ideen, um neue Wahrheiten, und so sprengt er die tradierten Formen, die ihm für das zu Sagende nicht mehr ausreichen.

Im Grunde ist es kein Wunder, dass diese Sonate Beethovens Zeitgenossen verstörte oder zumindest überforderte. In August von Kotzebues konservative Postille »Der Freimüthige« wird das Werk verrissen: »Die Komposition war grell, und das Streben nach Sonderbarkeit und Originalität so weit als möglich getrieben: eine Mode, welche (…) den unbefangenen Zuhörer nie befriedigen wird.« Noch härter geht der Rezensent der »Allgemeinen Musikalischen Zeitung« mit der Sonate ins Gericht: »Um dieses befremdliche Werk zu schätzen, müßte man von aesthetischem oder artistischem Terrorismus befangen sein.« Selbst Widmungsträger Rodolphe Kreutzer bezeichnete das Werk als »beleidigend unverständlich«.

Man kann die Kreutzer-Sonate durchaus als eine Art kammermusikalisches Gegenstück zur ebenfalls 1803 vollendeten dritten Sinfonie, der »Eroica«, betrachten, etwa was ihre extreme Ausdehnung und Virtuosität angeht, aber eben auch ihre Konstruktion. Kein Zufall, dass das tragische Abgesangsthema des ersten Satzes laut Adorno Ähnlichkeit mit jenem in der »Eroica« aufweist: »Erfüllung und zugleich: Nun gibt es kein Halten mehr.«

Das gilt nicht zuletzt für den Schlusssatz, eine verrückt-virtuose Tarantella, deren brillanter Gestus allein schon den Zusatz »scritta in uno stilo molto concertante« rechtfertigt, also »geschrieben in einem überaus konzertierenden Stil«, den Beethoven seinem Werk gegeben hat. Die Kreutzer-Sonate ist in jedem ihrer drei Sätze, in all ihren 40 Minuten von ungeheurer Kühnheit und Expressivität. Ein tatsächlich auf allen Ebenen radikales Werk.

Bis heute werden nur wenige Geiger*innen dieser Radikalität wirklich gerecht. Wer die Kreutzer-Sonate spielt, sie gar öffentlich aufführt, begibt sich auf eine Gratwanderung, aufs Trapez ohne jegliches Netz. Insofern ist Antje Weithaas die geborene Ideal-Interpretin dieses Werkes: Sie lässt sich ganz und gar auf die Komposition ein, mit allen Fasern ihres Spiels. Sie geht in jeder Interpretation aufs Ganze. Da ist keine Spur von kammermusikalischem Biedersinn, wie man ihn vor einigen Jahren etwa beim Auftritt von Julia Fischer und Igor Levit im Kammermusiksaal der Berliner Philharmoniker erleben musste.

Antje Weithaas und Dénes Várjon verlangen sich, dem Publikum, vor allem aber auch Beethovens Sonaten alles ab. Wo es nötig ist, agieren die beiden geradezu tollkühn, ohne jedoch die Zwischentöne zu vernachlässigen. Man höre etwa, wie einzigartig sie die lange Eingangskantilene der »Frühlings«-Sonate op. 24 nehmen (der Titel »Frühling« stammt ebenso wenig von Beethoven wie jener der »Mondschein«-Sonate).

Im Konzert ist hohe Sternstunden-Wahrscheinlichkeit gegeben. Für diejenigen, die nicht dabei sein können, bietet die mit dem »Jahrespreis 2024 der Deutschen Schallplattenkritik« ausgezeichnete Einspielung einen herausragenden Ersatz.

Antje Weithaas & Dénes Várjon: »Beethoven – Violin Sonatas«, 4 CDs (Deutschlandradio/Deutsche Grammophon)
Live im Pierre-Boulez-Saal, Berlin: 29., 30. und 31.5.

- Anzeige -

Wir sind käuflich.

Aber nur für unsere Leser*innen. Damit nd.bleibt.

Die »nd.Genossenschaft« gehört ihren Leser:innen und Autor:innen. Sie sind es, die durch ihren Beitrag unseren Journalismus für alle zugänglich machen: Hinter uns steht kein Medienkonzern, kein großer Anzeigenkunde und auch kein Milliardär.

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:

→ unabhängig und kritisch berichten
→ übersehene Themen aufgreifen
→ marginalisierten Stimmen Raum geben
→ Falschinformationen etwas entgegensetzen
→ linke Debatten voranbringen

Werden Sie Teil unserer solidarischen Finanzierung und helfen Sie mit, unabhängigen Journalismus möglich zu machen.