Namhafte französische Juden gegen Netanjahus Politik

Die bedingungslose Treue zu Israel stößt jetzt an Grenzen

  • Ralf Klingsieck, Paris
  • Lesedauer: 4 Min.
Die bekannte französische Rabbinerin Delphine Horvilleur hat öffentlich Kritik an der israelischen Politik geäußert.
Die bekannte französische Rabbinerin Delphine Horvilleur hat öffentlich Kritik an der israelischen Politik geäußert.

Immer mehr jüdische Persönlichkeiten Frankreichs distanzieren sich von der Politik und dem Krieg, den die Regierung Netanjahu mit brutalsten Mitteln gegen die palästinensische Bevölkerung im Gazastreifen führt. »Es war zu erwarten und nur eine Frage der Zeit, bis die internen Auseinandersetzungen, Risse und Spaltungen in Israel auch auf die jüdische Diaspora in Frankreich übergreifen«, stellt der Philosoph Alain Finkielkraut fest.

Das ist umso bedeutsamer, als die schätzungsweise 400 000 französischen Juden die größte jüdische Gemeinschaft in Europa repräsentieren und sich traditionell immer solidarisch und sehr eng mit Israel verbunden fühlten. Aus Frankreich kommen jedes Jahr die meisten Übersiedler, die nicht mehr nur mit, sondern nun auch in Israel leben wollen.

Außerdem haben viele Juden in Frankreich für alle Fälle neben dem französischen auch bereits einen israelischen Pass in der Tasche. Diese Bindung hat immer stark ihre Haltung zu Israel bestimmt, gemäß dem jahrhundertealten Spruch »Right or wrong – my country« (Ganz gleich, ob ich die Maßnahmen [der Regierung] für falsch oder richtig halte, meinem Vaterland schulde ich Loyalität).

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Seit dem terroristischen Überfall der Hamas in Israel am 7. Oktober 2023 und den immer brutaleren Reaktionen der israelischen Regierung haben es nur wenige jüdische Persönlichkeiten in Frankreich gewagt, dazu kritisch Stellung zu beziehen. »Aus Liebe zu Israel haben wir uns nur zu oft selbst den Mund verboten«, räumt die durch ihre Bücher und Vorträge international anerkannte Rabbinerin Delphine Horvilleur in einem offenen Brief ein, den sie in der von ihr geleiteten Zeitschrift »Tenoua« veröffentlicht und als erste von mehreren Dutzend Persönlichkeiten unterzeichnet hat. Israel befinde sich auf einer »politisch gefährlich schiefen Bahn« und »im moralischen Niedergang«, wird dort eingeschätzt.

Die Rabbinerin räumt ein, dass sie lange gebraucht habe, um die bedingungslose Gefolgschaft Israel gegenüber aufzukündigen. »Jegliche jüdische Selbstkritik droht die heilige Einheit unseres Volkes zu zersetzen und ist Munition für unsere Gegner, die uns zerstören wollen, haben wir uns gesagt. Damit unsere Worte nicht von den falschen Leuten aufgegriffen und gegen Israel verwendet werden konnten, haben wir geschwiegen«, stellt Horvilleur fest. »Aber wer heute seinen Nächsten wirklich liebt, muss seinem Gewissen folgen und sich deutlich äußern«, ist sie überzeugt.

Dem gleichen Tenor folgt ein Offener Brief in der Wochenzeitung »Tribune de Dimanche«, der von 45 namhaften jüdischen Philosophen, Historikern, Soziologen und Mitgliedern der Académie Française unterzeichnet wurde.

Die Journalistin Anne Sinclair schreibt in einer Kolumne in der politischen Wochenzeitung »L’Express«: »Wir sind innerlich verletzt und zerrissen durch die Aktionen der israelischen Regierung im Gazastreifen.« Die Art und Weise, wie die Armee auf Befehl der Netanjahu-Regierung dort vorgehe, sei nicht zu rechtfertigen. »Wir haben lange geschwiegen, weil wir angesichts des um sich greifenden Antisemitismus keine Spaltungen in unseren Reihen zulassen wollten, aber heute wissen wir: Die Juden haben zu viel gelitten, als dass sie es dulden könnten, dass in ihrem Namen Leid und Schaden angerichtet wird.«

Ebenfalls im »Express« schreibt der Historiker und Antisemitismus-Experte Marc Knobel: »Angesichts der Radikalisierung der Politik und Kriegsführung Israels dürfen die Juden nicht länger schweigen.« Er habe sich stets für die Existenz Israels in Frieden und Sicherheit engagiert und stehe nach wie vor dazu. »Doch die gegenwärtige Entwicklung in Israel und vor allem die katastrophale Situation in der palästinensischen Enklave Gaza hat mich überzeugt, dass die im Ausland lebenden Juden nicht zu bedingungsloser Gefolgschaft verpflichtet sind, sondern das Recht und sogar die Pflicht haben, unumwunden ihre Meinung und nicht zuletzt ihre Kritik zu äußern.«

»Die Juden haben zu viel gelitten, als dass sie es dulden könnten, dass in ihrem Namen Leid und Schaden angerichtet wird.«

Anne Sinclair Jüdische Journalistin

Selbst Yonathan Arfi, Präsident des CRIF, des Dachverbandes der jüdischen Organisationen Frankreichs, der seit vielen Jahren jegliche Kritik an der Politik Israels als antisemitische Angriffe abzuqualifizieren versucht hat, geht jetzt vorsichtig auf Distanz zur Politik und Kriegsführung Israels im Gazastreifen: »Wir sehen die Gefahr, dass unsere Worte missbraucht und instrumentalisiert werden könnten, und bemühen uns daher um Maß und größte Vorsicht.«

Zugleich betont Arfi seine Überzeugung, dass »die in Israel tief verwurzelte Demokratie in der Lage sein wird, sich angemessen zur Politik der Regierung zu äußern und auf sie zu reagieren«. In diesem Zusammenhang erinnert er daran, dass der CRIF kritisch auf die Äußerungen des rechtsextremistischen Finanzministers Bezalel Smotrich reagiert hat, der vor Monaten bei einem Besuch in Paris in einer Rede vor französischen Juden versicherte, Israel werde den Gazastreifen von seinen palästinensischen Bewohnern »reinigen« und diese in die arabischen Nachbarländer abschieben.

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