- Politik
- Grundrechte
Grundrechte unter Druck: Misshandelnde und tödliche Staatsgewalt
Der Grundrechte-Report geht auf Folterskandale in deutschen Gefängnissen und Schusswaffeneinsätze durch Polizisten ein
Artikel 2 des Grundgesetzes besagt: »Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich.« Im Grundrechte-Report, den Bürgerrechtsinitiativen vor wenigen Tagen veröffentlicht haben, sind besonders eklatanten Verletzungen dieses fundamentalen Grundrechts zwei Beiträge gewidmet. Der erste befasst sich mit der evidenten Zunahme von Fällen, in denen Polizeieinsätze für Betroffene tödlich enden. Das Thema ist spätestens seit dem Tod von Lorenz A. am Ostersonntag in Oldenburg in aller Munde.
Der junge Mann wurde kurz vor seinem 22. Geburtstag von einem Polizisten erschossen – von hinten, als er vor dem Beamten weglief. Drei Kugeln trafen ihn in den Oberkörper, die Hüfte und den Kopf. Ein viertes Geschoss streifte seinen Oberschenkel. Britta Rabe erinnert in ihrem Beitrag für den Grundrechte-Report noch einmal daran, dass Polizisten selbst in besonders aufsehenerregenden Fällen wie dem des durch zahlreiche Schüsse in Dortmund getöteten jungen senegalesischen Geflüchteten Mouhamed Dramé freigesprochen werden.
Unser täglicher Newsletter nd.Kompakt bringt Ordnung in den Nachrichtenwahnsinn. Sie erhalten jeden Tag einen Überblick zu den spannendsten Geschichten aus der Redaktion. Hier das kostenlose Abo holen.
Dabei waren gegen den suizidgefährdeten Jugendlichen zuvor bereits andere Waffen eingesetzt worden: Pfefferspray (»die ganze Flasche«, wie der Einsatzleiter betont hatte) und Distanz-Elektroimpulsgerät, umgangssprachlich Taser. Die Geräte werden ebenfalls immer häufiger eingesetzt, ohne dass, wie im Fall Mouhamed, die Betroffenen angesprochen worden wären oder dass Beamte anderweitig beruhigend aufgetreten wären.
Das Landgericht Dortmund sprach alle fünf angeklagten Polizisten vom Vorwurf des Totschlags und selbst von dem der Fahrlässigkeit frei. Die Staatsanwaltschaft hatte immerhin noch für den Einsatzleiter eine Bewährungsstrafe gefordert. Sie stimmte aber mit dem Gericht darin überein, dass sich die Beamten »fälschlich in einer Notwehrlage« wähnten, was zur Tötung des jungen Mannes geführt habe. Allein seit dem Tod von Mouhamed im August 2022 wurden laut Grundrechte-Report 38 weitere Menschen bei Polizeieinsätzen getötet. Und immer wieder kam das Notwehr-Argument zur Entlastung der Beamten zum Einsatz.
Einem schon wieder ziemlich in Vergessenheit geratenen Skandal widmet sich im Report der Jurist, Kriminologe und frühere Gefängnisdirektor Thomas Galli: der brutalen Behandlung von Strafgefangenen in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Augsburg-Gablingen und die lange währende Ignoranz des bayerischen Justizministeriums trotz Beschwerden von Betroffenen und einer ehemaligen Anstaltsärztin. Der Fall, den Journalisten der »Augsburger Allgemeinen« im Herbst 2024 publik gemacht hatten, sorgte nur kurz für weitere Schlagzeilen, TV- und Rundfunkbeiträge. Der Grund dürfte sein: Strafgefangene haben nur wenige Fürsprecher.
Einer von ihnen ist Thomas Galli, der sich als Buchautor seit vielen Jahren vehement für eine tiefgreifende Reform des Justizsystems einsetzt. Freiheitsstrafen, ist er überzeugt, sollten nur in wenigen, besonders schweren Fällen verhängt werden. In der JVA Gablingen wurden Gefangene offenbar nackt in Spezialzellen eingesperrt, teils wochenlang und ohne ausreichende rechtliche Grundlage, einige mussten auf dem nackten Zellenboden schlafen, hatten also nicht einmal eine Matratze. Trotz eines detaillierten Brandbriefs einer Medizinerin an das Justizministerium dauerte es rund ein Jahr, bis die Behörden eingriffen. Seither wird gegen die Anstaltsleitung ermittelt.
Das ARD-Magazin Kontraste konnte Ende November mit betroffenen Gefangenen sprechen. Einer von ihnen, Andreas Hartinger, sagte, er sei bereits zu Beginn seiner Untersuchungshaft ausschließlich mit einer Papierunterhose bekleidet in einen »dunklen, fensterlosen« Raum hineingeworfen worden, habe zehn Tage auch nicht duschen dürfen. Zudem sei er von einem Bediensteten »mit der Faust in den Bauch geschlagen worden«. Der Untersuchungshäftling Angelo Jeremias berichtete dem Magazin, er sei plötzlich von sechs Beamten ergriffen worden. Auf die Frage, wo er hin solle, habe einer von ihnen geantwortet: »In die Hölle des Südens.« Er sei dann für 17 Tage in eine Arrestzelle gesteckt worden. Die JVA äußerte sich nicht zu den Fällen, auch Anwälte erhielten keine Auskunft.
Zudem hat die JVA offenbar versucht, Vorkommnisse bei einem unangekündigten Besuch eines Teams der Nationalen Stelle zur Verhütung von Folter zu vertuschen. Die Nationale Stelle inspiziert regelmäßig Haftorte, um die Einhaltung menschenrechtlicher Standards zu überprüfen. Bei dem Besuch am 9. August 2024 ließ man das Inspektionsteam außergewöhnlich lange warten, berichtete Rainer Dopp, Vorsitzender der Nationalen Stelle, gegenüber Kontraste. Kurz darauf ging eine anonyme Anzeige von JVA-Bediensteten aus Gablingen beim Justizministerium in München ein. Sie gaben an, die sogenannten besonders gesicherten Hafträume seien in der Wartezeit der Inspekteure mit Unterwäsche, Matratzen und Kissen ausgestattet worden.
»Die Unterbringung in besonders gesicherten Hafträumen darf nicht zur Disziplinierung bzw. Bestrafung Inhaftierter oder gar dazu missbraucht werden, Gefangene zu brechen.«
Thomas Galli Jurist und Kriminologe
»Besonders gesicherte Hafträume« (bgH), erläutert Thomas Galli, sind für die kurzzeitige Unterbringung Gefangener vorgesehen, die akut für sich oder andere eine Gefahr darstellen. Wenn Menschen länger als drei Tage in eine solche Zelle kommen, muss in Bayern das Justizministerium informiert werden. Laut dem bayerischen Strafvollzugsgesetz ist im Freistaat die Unterbringung in bgH bei erhöhter Fluchtgefahr, bei Gefahr von Gewalttätigkeiten gegen Personen oder Sachen oder bei Gefahr des Selbstmords oder der Selbstverletzung zulässig. Dabei darf papierne, leicht reißende Unterwäsche bzw. Kleidung zur Verhütung von Strangulation an die Gefangenen ausgegeben werden.
Die Unterbringung in bgH, so Galli, kann sehr leicht zur Verletzung von Artikel 2 des Grundgesetzes führen. »Insbesondere darf diese Art der Unterbringung nicht zur Disziplinierung bzw. Bestrafung Inhaftierter oder gar dazu missbraucht werden, Gefangene zu brechen«, betont der Jurist. Genau das scheint in Gablingen aber passiert zu sein.
Und die Dunkelziffer dürfte hoch sein. Denn die Unterbringung in bgH ist Alltag in deutschen Gefängnissen. Im Jahr 2023 wurde laut Galli bundesweit 7275 mal zu diesem Mittel gegriffen, das nach Ansicht der Europäischen Antifolterkommission eine »inakzeptable und erniedrigende Behandlung« darstellt. Eine solche verstößt auch gegen Artikel 1 des Grundgesetzes. Danach ist die Würde des Menschen unantastbar. Das gilt für jeden »allein aufgrund seines Personseins«, betont Galli – unabhängig auch davon, wie viel Schuld jemand auf sich geladen hat. Über die Zeitdauer der Unterbringungen ist nichts bekannt.
Galli fordert deshalb auch eine gesetzliche Höchstunterbringungsdauer in bgH, nach deren Ablauf eine gefangene Person in eine psychiatrische Klinik verlegt werden muss. Zudem plädiert er für eine personelle Aufstockung der Nationalen Stelle zur Verhütung von Folter, gesetzliche Mindeststandards für die Ausstattung der speziellen Hafträume und einen Richtervorbehalt für die Unterbringung darin.
Wir sind käuflich.
Aber nur für unsere Leser*innen. Damit nd.bleibt.
Die »nd.Genossenschaft« gehört ihren Leser:innen und Autor:innen. Sie sind es, die durch ihren Beitrag unseren Journalismus für alle zugänglich machen: Hinter uns steht kein Medienkonzern, kein großer Anzeigenkunde und auch kein Milliardär.
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ unabhängig und kritisch berichten
→ übersehene Themen aufgreifen
→ marginalisierten Stimmen Raum geben
→ Falschinformationen etwas entgegensetzen
→ linke Debatten voranbringen
Werden Sie Teil unserer solidarischen Finanzierung und helfen Sie mit, unabhängigen Journalismus möglich zu machen.