Gaza-Krieg: Katastrophe nach Plan

Israels Operation »Gideons Streitwagen« bringt Tod und Vertreibung

Menschen begutachten die Schäden an der Fahmi-Al-Dschardschawi-Schule in Gaza-Stadt nach einem verheerenden israelischen Angriff.
Menschen begutachten die Schäden an der Fahmi-Al-Dschardschawi-Schule in Gaza-Stadt nach einem verheerenden israelischen Angriff.

Die Aufnahmen eines palästinensischen Kameramanns sind bereits wenige Stunden nach ihrer Veröffentlichung zum Inbegriff des aktuellen Vorgehens der israelischen Armee in Gaza geworden. Zu sehen ist ein kleines Mädchen, das in den Räumen einer Schule vor einer meterhohen Feuerwand herumirrt. Der in mehreren Klassenräumen lodernde Brand im Osten von Gaza-Stadt war durch einen israelischen Luftangriff ausgelöst worden. Nach Angaben der Rettungskräfte starben 36 Menschen, darunter waren 18 Kinder und sechs Frauen.

Die Fahmi-Al-Dschardschawi-Schule wurde von Vertriebenen als Unterkunft genutzt, der Einschlag der Raketen am Montag kam für die Bewohner offenbar völlig überraschend. Die Videoaufnahmen zeigen, wie freiwillige Helfer und Mitarbeiter des Roten Halbmonds verzweifelt versuchen, Verletzte aus den Flammen zu ziehen, aber wegen fehlenden Löschwassers zurückweichen müssen. »Während wir versuchten, die an den Fenstern angebrachten Eisengitter herauszubrechen, hörten wir die Schreie der Menschen, die gerade in den Klassenräumen verbrannten«, berichtet Ahmad Al-Nadi dem Nachrichtenportal Mada Masr. Ein anderer Helfer, Abd Al-Nahal, sagt, die Flammen seien direkt nach dem Einschlag der Geschosse ausgebrochen, die noch schlafenden Flüchtlinge hätten keine Chance gehabt zu überleben. »Ich habe brennende Kinder durch die Räume laufen sehen, auf der Suche nach ihren Müttern. Es war der pure Horror.«

Die Verzweiflung greift um sich

Verzweiflung herrscht auch unter den behandelnden Ärzten im Ahli-Arab-Krankenhaus, in das viele der Verletzten mit Brandwunden eingeliefert wurden. Wegen der seit dem 3. März andauernden Blockade der Hilfslieferungen ist der Vorrat an Medikamenten und Verbandsmaterial aufgebraucht. Krankenhausdirektor Fadl Naem führte Journalisten durch die überfüllten Gänge, in die auch die verbrannten Opfer gebracht wurden, damit diese von ihren Familien identifiziert werden können. »Uns fehlen mittlerweile einfach die Mittel, um eine solche Zahl an Patienten zu behandeln«, sagt Naem.

Augenzeugen mehrerer Angriffe in den vergangenen Tagen vermuten gegenüber »nd« am Telefon, dass die israelische Armee neuerdings bei ihren Angriffen Raketen oder Bomben einsetzt, die Brände auslösen. Bei früheren Angriffen auf Schulen starben die meisten Opfer durch Splitter, seit Beginn der israelischen Offensive werden im Ahli-Arab-Krankenhaus und in anderen Kliniken viele Brandopfer behandelt.

Das Ziel der »Gideons Streitwagen« genannten israelischen Offenive ist es, die palästinensische Bevölkerung in kleine Sicherheitszonen zu vertreiben und den Großteil des dann menschenleeren Gazastreifens militärisch zu besetzen. Laut israelischen Militäranalysten stehen schon jetzt 43 Prozent des 40 Kilometer langen und bis zu 14 Kilometer breiten Gazastreifens unter Kontrolle der Armee. Da die Zahl der verwundeten oder getöteten israelischen Soldaten offenbar sehr gering ist, gehen sie davon aus, dass der militärische Widerstand der Hamas weitgehend zusammengebrochen ist. Dass die Armee trotz der massiven Straßenproteste, die es in den vergangenen Tagen in Gaza und Khan Junis gegen die kompromisslose Haltung der Hamas-Führung gab, rücksichtslos gegen die Zivilbevölkerung vorgeht, sorgt weltweit für immer größere Empörung.

Wiederauflage der Nakba?

Meldungen der Pressestelle der israelischen Armee, man habe während der neuen Offensive »diverse Maßnahmen ergriffen, um die Zivilbevölkerung zu schützen«, werden nicht einmal in Israel ernst genommen. Auch die Behauptung eines Armeesprechers, in der Schule hätten sich zur Zeit des Angriffs Hamas-Kommandeure befunden, wird kaum noch wahrgenommen. Denn mittlerweile sprechen radikale Politiker ganz unverblümt aus, was aus ihrer Sicht das Resultat von »Gideons Streitwagen« sein wird. Am Altstadttor von Ost-Jerusalem plakatierte die rechtsextreme Gruppe »Im Tirtz« (Wenn ihr es wollt) am Montag: »2025 – Gaza in unseren Händen« und »Ohne weitere Nakba kein Sieg für uns«.

Dass die Nakba, die während der Staatsgründung Israels von 1947 bis 1949 durchgeführte Vertreibung von 700 000 Palästinensern, wiederholt werden soll, wird auch in der Regierungskoalition von Premier Benjamin Netanjahu mehr oder weniger verklausuliert formuliert. Finanzminister Bezalel Smotrich und der Minister für Nationale Sicherheit Itamar Ben Gwir haben einen einfachen Plan: die Zahl der Palästinenser reduzieren. Die seit dem 7. Oktober 2023 gestiegene Gleichgültigkeit in Israel gegenüber dem Leiden der Palästinenser hat ihre Vertreibungsfantasien noch angefacht. »Man kann 100 Palästinenser in einer Nacht töten«, sagte der radikale Knesset-Abgeordnete Tzippy Scott vergangene Woche, »es interessiert niemanden auf der Welt.«

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Doch vor allem in akademischen Kreisen wird immer mehr Israelis bewusst, dass eine vor den Augen aller Welt ausgeführte ethnische Säuberung des Gazastreifens das Land zu einem Paria der Weltgemeinschaft macht. Mehr als 1100 Professoren und Universitätsleitungen gingen am Wochenende mit einer Deklaration an die Öffentlichkeit, in der sie das Ende der »entsetzlichen Reihe an israelischen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit fordern«.

Die Regierung Netanjahu bleibt unbeirrt: Mit der Wiederaufnahme von Hilfslieferungen will sie mögliche Sanktionen verhindern und gleichzeitig den Flüchtlingsstatus der Bewohner von Gaza und den seit 1948 bestehenden Lagern im Westjordanland beenden. Mit dem Verbot des UN-Hilfswerks für Palästina-Flüchtlinge würde es sich nicht mehr um vertriebene Flüchtlinge handeln, sondern um normale Bürger, die aufgrund der Zerstörung fast aller Häuser in Gaza eben emigrieren sollen. Helfen soll dabei die Gaza Humanitarian Foundation (GHF). Die in der Schweiz registrierte Stiftung hat US-amerikanische Söldner eingestellt, die seit Montag an vier Punkten in Gaza Lebensmittel verteilen sollen. Sicherheitsminister Ben Gwir fordert, die Verteilung von Lebensmitteln an die Bereitschaft der Empfänger zur Ausreise aus dem Gazastreifen zu verknüpfen. Keine der unter der Kontrolle der Armee stehenden Verteilungszentren befindet sich im Norden des Gazastreifens. »Für die dort lebenden Palästinenser bedeutet der Plan den sicheren Tod«, sagt Unicef-Sprecher James Eider.

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