Heide Lutosch: »Der Kapitalismus fordert viel Liebe«

Heide Lutosch über staatliche Ansprüche an die Familie, gehetzte Eltern, undankbare Kinder und die notwendige Vergesellschaftung der Sorgearbeit

Geordnet in Reih und Glied: Das schöne Familienleben hat eine klare Funktion in der Reproduktion der kapitalistischen Gesellschaft.
Geordnet in Reih und Glied: Das schöne Familienleben hat eine klare Funktion in der Reproduktion der kapitalistischen Gesellschaft.

Im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung stehen »Leistungsträger und ihre Familien im Mittelpunkt«. Für die CDU sind »Familien echte Leistungsträger, sie geben unserem Land Stabilität«. Und laut AfD sichern Kinder die »Weitergabe der eigenen Kultur, der Traditionen und der Fähigkeiten ihres Volkes«. Anscheinend braucht der Kapitalismus das Familienleben?

Ich denke, jede Gesellschaft braucht irgendeine Form der Familie – es ist nur die Frage, was man darunter versteht. In diesen Lobeshymnen auf die Familie steckt vor allem ein gesellschaftlicher Anspruch auf Nützlichkeit.

Was braucht der Kapitalismus denn von der Familie? Welche »Leistungen« erbringt sie?

Sie leistet den Nachwuchs an Arbeitskräften und gegebenenfalls Soldaten. Sie sorgt dafür, dass die Arbeitskräfte jeden Morgen sauber, satt und halbwegs ausgeschlafen am Arbeitsplatz erscheinen – und zwar unentgeltlich, Familienarbeit ist ja zumeist unbezahlt. Die Familie ist zudem teilweise zuständig für Krankheit und Alter, also für die Pflege jener, die nicht oder nicht mehr arbeitsfähig sind.

Das klingt kaltherzig. Die Politik nennt die Familie aber auch den Ort, an dem Liebe gegeben und empfangen und gelebt wird.

Ja, der Kapitalismus fordert viel Liebe. Es ist letzten Endes auch Aufgabe der Familie, ihre Mitglieder emotional stabil zu halten. Sie sozialisiert die Kinder in die Gesellschaft hinein und erzieht sie zu deren nützlichen Mitgliedern – das ist das, was die AfD wohl mit »Kulturweitergabe« meint. Für all das benötigt der Kapitalismus die Familie. Wobei die Frage offen ist, ob er sie in dieser Form der biederen Kleinfamilie braucht, also die Dreieinigkeit Vater, Mutter, Kind.

Interview

Heide Lutosch lebt als Autorin und Übersetzerin in Leipzig. Sie hat ein Kind geboren und ein weiteres adoptiert. Ihr Buch »Kinderhaben« erschien 2023 bei Matthes & Seitz. Lutosch engagiert sich in der laufenden Debatte um demokratische Planwirtschaft, die sich unter anderem darum dreht, wie Arbeit in einer befreiten Gesellschaft organisiert werden kann. Sie hat ihre Ideen in verschiedenen Publikationen und Podcasts dargelegt. Kürzlich erschien ihr Beitrag »Embracing the Small Stuff: Caring for Children in a Liberated Society« im Sammelband »Creative Construction. Democratic Planning in the 21st Century and Beyond«.

Ist der Kapitalismus in dieser Frage liberaler als es den Konservativen und Rechten manchmal lieb sein kann?

Offensichtlich. Die herrschende Produktionsweise ist ja ziemlich flexibel, wenn es darum geht, sich auch andere Beziehungsformen zunutze zu machen. Wohlgemerkt, diese Flexibilität hat ziemlich brutale Grenzen: Bei geflüchteten Menschen sieht man es nicht so eng mit der schützenswerten Einheit der Familie. Der Familiennachzug für Geflüchtete wird ja gerade zunehmend eingeschränkt. Und alleinerziehende Frauen leben trotz Erwerbstätigkeit überproportional oft in Armut. Aber um auf Ihre Frage zurückzukommen: Dennoch sieht man am Beispiel der Familie ganz gut, wie die herrschende Gesellschaftsform auf Dauer – und nach intensiven Gleichstellungskämpfen durch die Betroffenen – auch neue, als widerständig und emanzipativ empfundene Formen des Zusammenlebens integrieren kann und von ihnen sogar profitiert – zum Beispiel Regenbogenfamilien, die aus strukturellen Gründen überdurchschnittlich oft aus akademischen Milieus stammen – und nicht selten zu jenen »Leistungsträgern« gehören, deren Vermehrung gewisse wirtschaftsliberale Kreise besonders gerne sehen.

Alle Parteien sind dafür, das Angebot an Kinderbetreuung zu erweitern. »Wenn alle Frauen mit Kindern so arbeiten könnten, wie sie möchten, hätten wir in Deutschland bis zu 840 000 zusätzliche Arbeitskräfte«, schreiben etwa die Grünen in ihrem Wahlprogramm.

Unter den gegebenen Bedingungen wäre der Ausbau der Kinderbetreuung für die Eltern natürlich eine große Entlastung. Das ändert aber nichts daran, dass das System so gestrickt bleibt, dass die Kombination von Lohnarbeit und Familie zu einer maximalen Belastung führt. Diese Belastung aber wird politisch hergestellt. Die Regierungen tun zwar so, als würden sie sich um die Familie kümmern. Tatsächlich aber ist es eher andersherum gemeint: Die Familie soll die Gesellschaft stabilisieren – die CDU nennt sie »unser Land«, die AfD »unser Volk«, SPD und Grüne sprechen von »Stabilität« und »gesellschaftlichem Zusammenhalt«.

Stabilität ist doch nichts Schlechtes?

Im hiesigen System bedeutet sie, dass die Reichen reich und die anderen da bleiben, wo sie sind, nämlich unten – und sich dagegen auch nicht wehren. Zu dieser Stabilität soll die Familie beitragen. Für die Politik ist sie Mittel zum Zweck, weswegen sie sie als »Leistungsträger« lobt. Sehr viel ökonomischer Druck wird in die Familie ausgelagert.

Die Parteien versprechen eine bessere »Vereinbarkeit von Beruf und Familie«. Worin besteht denn die offenbare Unvereinbarkeit?

Aus meiner Erfahrung liegt das Problem nicht nur an der Doppelbelastung von Beruf und Familie, sondern auch daran, dass beide Sphären ganz unterschiedlichen Logiken folgen. Kinder sind nun einmal langsam und sperrig. Für ein Kind zu sorgen, braucht einfach Zeit und Flexibilität. Lohnarbeit heißt, Funktionieren-können und Kinder funktionieren nicht so einfach. Sie haben ihre eigenen Rhythmen, sie halten sich nicht an deinen Plan, sind verträumt, abgelenkt, wollen sich nicht an- oder ausziehen, während die Uhr für dich tickt. Familienleben bedeutet einen umfassenden und grundlegenden Mangel an Zeit. Die reale Vereinbarkeit besteht dann darin, dass Eltern, meist die Mütter, sich den lieben langen Tag abrackern, nicht selten von einer Erschöpfungsdepression in die nächste rutschen und dabei die Schuld immer nur bei sich selbst suchen – denn Familie ist doch eigentlich etwas Wunderbares!

Laut CDU »heißt Familie immer auch: Leben mit Herausforderungen, von knapper Zeit bis knapper Kasse« ...

Das ist ja kein Naturgesetz, sondern es sind gesellschaftlich hergestellte Bedingungen, die das Familienleben zu einer elenden Hetzerei machen und ein Maximum an Disziplin erfordern. Den Schaden tragen die Einzelnen, nicht die Gesellschaft, weswegen sich an den Umständen auch nichts ändert. Das sorgt für viel Verzweiflung und Wut, die die Familienmitglieder aneinander auslassen. Gebildete Eltern halten ihre Kinder dann eher für »schwierig« oder therapiebedürftig. In anderen Haushalten wird vielleicht mehr geschimpft. Je weniger Geld, Raum und Zeit zur Verfügung stehen, umso schwieriger ist es, gelassen und freundlich Kinder großzuziehen.

Das passt nicht ganz zu dem Bild, das die Parteien von der Familie zeichnen. Laut AfD ist sie »der Ort, um Freude zu teilen, Trost zu finden, Kraft zu tanken sowie Liebe zu empfangen und zu geben«. Auch die SPD sieht in Kinderaufzucht und Altenpflege »ein Wertesystem aus Verantwortung, Fürsorge, Liebe« am Werk.

Ja, die Liebe soll es richten. Zunächst klingt das schön – die Liebe, also ein Gefühl des Hingezogenseins, der Nähe und des Vertrauens. Das meint die Politik aber hier nicht. Liebe wird hier nicht als gegeben vorausgesetzt, sondern eingefordert. In der Familie sollen die Menschen Kompensation finden für den Stress, den Mangel und die Niederlagen des Rest-Lebens. Die emotionale Stabilität muss zu Hause nach Dienstschluss immer wieder hergestellt werden. Die Liebe, von der die Politik spricht, ist eher so eine Art Anspruch – vor allem an Frauen. Sie soll gleichzeitig ihr Antrieb sein und ihr Lohn.

Laut dem neuen Kulturstaatssekretär Wolfram Weimer ist die Familie »dem Konservativen ein Garant des ewigen Wertes der Liebe«.

Liebe als Wert ist eben etwas ganz anderes als Liebe als Gefühl. Als Schmiermittel für die Familienmaschine ist sie eine moralische Pflicht, letztlich zur Selbstlosigkeit – ein Anspruch, den nicht nur die Politik an die Menschen stellt, sondern auch die Menschen aneinander und an sich selbst. An dieser »Liebe« kann man scheitern. Das räumlich isolierte »Treibhaus Familie« produziert daher laufend Schuldgefühle, Enttäuschung, Vorwürfe und Versagensängste. Welche entnervte Mutter kennt nicht die Furcht, ihre Kinder nicht genug zu lieben? Und welches Kind kennt nicht den Vorwurf der Undankbarkeit? Für Kinder ergibt sich aus der empfangenen »Liebe« auch: Sie müssen irgendwann zurückzahlen.

Was heißt es, dass die Kinder die Liebe zurückzahlen müssen?

Spätestens wenn die Eltern pflegebedürftig werden, muss sich jemand um sie kümmern, meistens die Tochter, einfach weil es sonst niemand macht. Auch hier herrschen wieder Geld- und Zeitmangel, auch hier ist wieder jeder und jede auf sich allein gestellt, diesen Kampf zu führen und sich durch das Gestrüpp der Bürokratie zu kämpfen. Nur 16 Prozent der alten Menschen hierzulande werden stationär gepflegt. Das bedeutet, dass in 84 Prozent der Familien jemand den Großteil des eigenen Lebens aufgibt, um Verwandte zu Hause zu pflegen. Meistens sind es Frauen, von denen viele gerade erst das Kindergroßziehen hinter sich haben. Das ist das Furchtbare daran, wie Care in kapitalistischen Gesellschaften organisiert ist: Dass die Sorge für andere immer Selbstaufopferung bedeutet und jede und jeder sich allein abstrampelt.

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Um das Abstrampeln erträglicher zu machen, wird von allen Seiten gefordert, die Familienarbeit gesellschaftlich aufzuwerten und der Lohnarbeit gleichzustellen. Schließlich, so etwa das SPD-Wahlprogramm, »sichern Leistungsträgerinnen und Leistungsträger mit ihrer Arbeit den Wohlstand in unserer Gesellschaft«.

Ja, das hätten die gerne, dass der moralische Lohn steigt und die Frauen wieder am Herd ihre Pflicht erfüllen. Etwas stimmt allerdings an der Sache: Care, Familienarbeit hat im Vergleich zur Lohnarbeit einen geringeren Status. Es ist zum Großteil eine dreckige, undankbare, anstrengende und vor allem langweilige Arbeit. Hausarbeit ist zudem auch wahnsinnig einengend, meistens für die Frauen, ein Albtraum – eine völlig isolierte, sozial überhaupt nicht anerkannte Situation. Dass Männer das Privileg mit Klauen und Zähnen verteidigen, diese Arbeit nicht machen zu müssen, ist eigentlich nicht erstaunlich.

Anstrengend und dreckig kann Lohnarbeit aber auch sein.

Ja, aber dazu kommt, dass Care-Arbeit zumeist nicht bezahlt wird, dass man nicht aufsteigen oder Karriere machen kann. Der Hausarbeit haftet etwas Läppisches an, sie gilt – fälschlicherweise – als etwas, das man nicht lernen muss. Historisch hängt das damit zusammen, dass die Güterproduktion aus dem Haus in die Fabrik verlagert wurde – das ist die Rolle des Mannes. Die Hausarbeit wurde zum Teil durch Technik wie Elektroherd, Waschmaschine oder Kühlschrank erleichtert, und obwohl heute das Brot aus der Fabrik kommt, erfordert Care immer noch viel Arbeit, die im Grunde ein ganz normaler und notwendiger Teil der gesellschaftlichen Gesamtarbeit ist. Im hiesigen System aber gilt sie als Privatsache, fast als Hobby. Das Mutter- und Hausfrau-Sein wurde immer mehr zu einer Gefühlsaufgabe: Vor allem der Mann muss gepflegt, gestützt und wieder arbeitsfähig gemacht werden ...

… und die Kinder brauchen Mutterliebe.

Die Historikerin Christina Wessely hat nachgezeichnet, wie das Konstrukt »Mutterliebe« quasi erfunden worden ist. Es gab eine Zeit, in der haben Mütter ohne Bedenken ihre Kinder aufs Land geschickt und Ammen übergeben. Diese Ammen aber waren oft sehr arm und hatten viel zu viele Pflegekinder, was die Kindersterblichkeit in die Höhe trieb. Zur Lösung dieses bevölkerungspolitischen Problems wurde im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts die Mutterliebe erfunden, eine Art biologisch vorgesehene, genetisch bedingte Zuneigung der Mutter zum Kind. Abgebildet wurde dies damals vorzugsweise mit Gemälden stillender Affen- und Menschenmütter.

Das Wort »Vaterliebe« ist dagegen eher unüblich.

Weil der Anspruch sich bis heute an Frauen richtet. Die Aufopferung, die permanente Verfügbarkeit der Mutter soll Beleg für ihre Liebe zu den Kindern sein, die dazu noch bedingungslos sein soll. Daraus folgen Selbstzweifel der Mütter, ob sie ihr Kind auch genug lieben, ob das Kind auffälliges Verhalten zeigt, weil man selbst von ihm genervt ist. Bis in linksradikale Kreise hinein reicht die Vorstellung, dass die Liebe zum Kind etwas Natürliches ist, eine Grundkonstante, die sich mit der Empfängnis quasi automatisch und gleichmäßig stark einstellt, unabhängig von den Bedingungen, eben »unconditional«. Dabei ist keine Liebe bedingungslos. Und sie nicht in dieser Weise zu empfinden, ist kein Charakterfehler.

»Es sind gesellschaftlich hergestellte Bedingungen, die das Familienleben zu einer elenden Hetzerei machen.«

Das Familienleben stellt nicht nur die Liebe zum Kind auf eine harte Probe, sondern auch die Liebe der Eltern zueinander. Streitthema Nummer eins bei Paaren ist die Aufteilung der Hausarbeit ...

Angesichts der gesellschaftlichen Stellung der Hausarbeit ist das kein Wunder. In dieser Hinsicht gibt es für Männer hier wenig zu gewinnen, weil Status und Selbstwertgefühl stark an beruflichen Erfolg geknüpft sind. Unter Paaren führt das zu zermürbendem Streit darum, wer die Hausarbeit erledigen muss und wer lohnarbeiten darf. Ausgerechnet der Zwang zur Lohnarbeit wird dadurch zu einer Sphäre der Selbstverwirklichung und der individuellen Freiheit. Nicht dass ich falsch verstanden werde: Familie und Kinder bieten Momente eines ganz besonderen Glücks. Ich möchte nicht sagen, dass alle Familien unglücklich sind, sondern dass das spezifische Unglück, dass man beobachten kann, dem Kapitalismus geschuldet und in ihm unvermeidbar ist. Es ist kein individuelles Problem, sondern ein gesellschaftliches, das seine materielle Basis im Zwang zur Lohnarbeit hat und dem daraus folgenden Geld- und Zeitmangel.

Muss man den Kapitalismus überwinden, um ein gutes Familienleben zu führen?

Ja.

Wenn Sie träumen dürften: Wie würden Sie sich Familie in einer befreiten Gesellschaft vorstellen?

Nun zunächst würde die Vergesellschaftung der Produktionssphäre ja dazu führen, dass die Güterherstellung sich nicht mehr an Profit und Wachstum orientiert, sondern an den Bedürfnissen von Menschen. Und zu denen gehört ja auch das Bedürfnis nach freier Zeit. Es würde also mehr Zeit zur freien Verfügung geschaffen – das hilft schon einmal sehr. Allerdings: Anders als viele Linke denken, wäre es damit nicht getan. Der Bereich Care muss anders organisiert werden, er muss entprivatisiert und als Teil der gesellschaftlichen Gesamtarbeit erkannt werden. Diese Notwendigkeit wird oftmals nicht gesehen. Denn auch viele Linke sehen Familie und Hausarbeit als Raum des Privaten, als Ort der Liebe und Geborgenheit, in den die Gesellschaft nicht eingreifen dürfe. Selbst gestandene Feministinnen wenden ein, sie könnten doch nicht die Stechuhr einschalten, wenn sie mit ihrem Kind spielen, das sei doch Liebe.

Also geht es bei der Befreiung um Arbeitsteilung?

Einerseits ja. Der Riesendruck für Eltern heutzutage kommt ja zum Teil dadurch, dass man ganz allein verantwortlich ist. In einer befreiten Gesellschaft könnte man beispielsweise festlegen: Jede Person muss vielleicht acht Stunden am Tag arbeiten, aber jede Arbeit zählt gleich. Zum Beispiel vier Stunden »Produktionsarbeit«, vier Stunden Kinder betreuen. Die Männer würden vielleicht größere Teile der Hausarbeit übernehmen, wenn sie dafür weniger »Berufsarbeit« leisten müssten. Andererseits handelt es sich um mehr als bloß um die Aufteilung der Arbeit zwischen den Geschlechtern. Man müsste heraus aus dem engen Konzept der Vater-Mutter-Kind-Familie. Ich glaube nicht, dass dieses Konzept »in Wirklichkeit« gut ist und nur in eine befreite Gesellschaft überführt werden muss. Und es wäre doch auch viel schöner, wenn man sich die Sorgearbeit mit mehreren Leuten teilen könnte.

Wie soll das funktionieren?

Es geht darum, das Verhältnis von Kindern und Erwachsenen unter der Maßgabe von Herrschaftsfreiheit und Bedürfnisorientierung neu zu erfinden. Warum zum Beispiel müssen es immer die leiblichen Eltern sein, die sich um Kinder kümmern? Und warum müssen es immer zwei Elternteile sein – aus meiner Erfahrung von Stress und Zeitmangel habe ich den Eindruck gewonnen, dass Kinder mehr als zwei Eltern haben sollten. Und warum muss Elternschaft immer aus einer romantischen Beziehung entstehen? Liebesbeziehungen sind weder stabil noch unkompliziert. Der Zwang zur Stabilität und Versorgung tut der Liebe auch nicht unbedingt gut.

Bei der Erweiterung der Elternschaft stellt sich aber ein Problem, das Sie als »Unkollektivierbarkeit« der Kinder bezeichnen. Was meinen Sie damit?

Kleine Kinder brauchen stetigen Kontakt – streicheln, pflegen, füttern –, sie brauchen Verlässlichkeit und Beständigkeit und lassen sich nicht einfach so abgeben. Ähnlich wie Liebesbeziehungen unter Erwachsenen hat die Beziehung zu einem Kind etwas Exklusives. Das funktioniert in größeren Gruppen nicht, ich würde sagen, vier Eltern-Personen sind das Maximum. Und dieses Kollektiv muss stabil bleiben. Feste Bezugspersonen wären die grundsätzliche Voraussetzung. In einer befreiten Gesellschaft ginge es darum, eine Form der Kinderversorgung und -betreuung zu finden, die nicht privat ist und trotzdem Geborgenheit ermöglicht.

Wie könnte so eine Form kollektivierter Geborgenheit aussehen?

Das ist eine sehr komplexe Aufgabe und ich habe kein Patentrezept, nur erste Ideen. Zum Beispiel so etwas wie eine Vierer-Elternschaft. Die vier Personen sollten einander idealerweise schon länger kennen und mögen, und die leiblichen Eltern müssten nicht Teil davon sein. Die Verantwortung und die Arbeit wären damit auf mehr Schultern verteilt, Eltern wären weniger gestresst, womit sich die Bedürfnisse von Kindern und Erwachsenen seltener gegenseitig ausschließen würden. Für Erwachsene böte sich zudem der Vorteil, dass sie in verschiedenen Lebenszeiten Eltern werden und dass sie in unterschiedlichen Kombinationen und Verhältnissen Kinder großziehen könnten.

Zwei Elternteile sind schon kompliziert, wie soll das mit vier Eltern einfacher werden? Und wie kann die von Ihnen geforderte Kontinuität der Kinderbetreuung zuverlässig über lange Zeit erhalten bleiben, wenn der Zwang fehlt? Was, wenn ein Teil des Elternkollektivs irgendwann keine Lust mehr hat?

Ja, das ist ein harter Brocken. Es geht ja um eine lebenslange Bindung. Was den familialen Kitt ersetzt, das kann ich auch nicht sicher sagen. Andererseits besteht dieser Kitt ja vor allem aus einer finanziellen und emotionalen Abhängigkeit, was der Sache gar nicht guttut. Zudem wäre man in einer Gesellschaft, in der man nicht mehr den ganzen Tag arbeiten muss, vielleicht etwas entspannter, sodass der Widerspruch zwischen dem Wunsch nach Autonomie der Eltern und der Abhängigkeit des Kindes von seinen Bezugspersonen nicht so krass ausfiele. Und schließlich wäre die Frage »Was ersetzt den Zwang?« ja nicht nur eine Frage der Kinderbetreuung, sondern grundsätzlich der gesamten befreiten Gesellschaft. Wer nicht daran glaubt, dass eine Gesellschaft auf Basis von Vernunft und Freiwilligkeit funktionieren kann, der ist mit dem Kapitalismus vielleicht ganz gut bedient.

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