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Angetreten zum Dienst am Wachstum
Worum es der Politik in der Debatte um längere Arbeitszeiten tatsächlich geht
Die Regierungskoalition ist in der Bevölkerung mäßig beliebt. Gleichzeitig sind die Regierenden äußerst unzufrieden mit der Bevölkerung – denn sie arbeite zu wenig. »Mit Vier-Tage-Woche und Work-Life-Balance werden wir den Wohlstand dieses Landes nicht erhalten können«, mahnt Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) und fordert eine »gewaltige Kraftanstrengung«. CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann hat gar »den Eindruck, dass es nicht mehr um Work-Life-Balance geht, sondern um Life-Life-Balance«. Zu viel Leben, zu wenig Arbeit, so die Diagnose. Bleibt die Frage: Wozu die ganze Schufterei?
Weniger gearbeitet als früher wird in Deutschland nicht. Gesamtwirtschaftlich ist das Arbeitsvolumen pro Kopf der Bevölkerung seit der Wiedervereinigung in etwa konstant, errechnet die Uni Duisburg, »es gab also keine gesellschaftliche Arbeitszeitverkürzung«. Geschrumpft ist zwar nicht das Arbeitsvolumen, aber das Wirtschaftswachstum. Und legt die Wirtschaftsleistung nicht zu, ist laut Merz nicht nur »unser Wohlstand« bedroht, sondern damit auch die Kriegstüchtigkeit des Landes. Die Deutsche Bank sekundiert: »Ein wirtschaftlich stagnierendes Land wird nicht in der Lage sein, nachhaltig in seine Verteidigung zu investieren.«
Plädoyer für Freizeitverkürzung
Daher plädieren Ökonom*innen nun für eine allgemeine Freizeitverkürzung: Clemens Fuest, Chef des Ifo-Instituts, wirbt für die Streichung eines Feiertages. Sein Kollege Moritz Schularick vom Institut für Weltwirtschaft kann sogar auf zwei Feiertage verzichten. Ältere Menschen sollen länger arbeiten, wird gefordert, und Arbeitslose mit schärferen Sanktionen in den Arbeitsmarkt gedrückt werden. Insbesondere teilzeitarbeitenden Müttern wird der Weg in die Vollzeit geebnet und damit die Doppelbelastung von Beruf und Familie erträglicher gemacht. »Auch das Arbeitsrecht steht einem dynamischeren Arbeitsmarkt im Weg«, rügt die Deutsche Bank, hier würden »Lockerungen im Kündigungsschutz und Einschränkungen bei der Kurzarbeit« helfen. Die Auflösung des Acht-Stunden-Tages steht bereits im Koalitionsprogramm. Wachstumszwang bedeutet Arbeitszwang.
Die Parole »Mehr Arbeit!« allerdings scheint nicht so recht zum Problem der deutschen Wirtschaft zu passen. Denn aktuell geht die Gefahr für das Wachstum laut Ökonom*innen nicht von der Faulheit der Deutschen aus, auch nicht vom Mangel an Pflegekräften oder Kinderbetreuer*innen, sondern vom Weltmarkt. Sorgenkind ist hier vor allem das Verarbeitende Gewerbe. »Deutschlands Wirtschaftswachstum hängt in höherem Maße an der globalen Nachfrage nach Industriegütern«, erklärt die Deutsche Bank.
Und an dieser Nachfrage herrscht Mangel: Die globale Konkurrenz verschärft sich, China ist zum Konkurrenten deutscher Industriegüter geworden, die USA verschließen mit Zöllen ihren Markt. In der Folge »leidet die deutsche Industrie unter einer schwachen Nachfrage und dem zunehmenden internationalen Wettbewerbsdruck«, erklärt das Ifo. Zuletzt klagten 43 Prozent aller deutschen Maschinenbauer über Auftragsmangel, und Autofabriken arbeiten mit halber Kraft. Es herrscht Überproduktion. Kurz: Gemessen an der zahlungsfähigen Nachfrage wird eher zu viel gearbeitet und hergestellt. Jedes dritte deutsche Unternehmen plant 2025 Stellenabbau.
Dessen ungeachtet fordern Politik und Unternehmen mehr Arbeit. Diese Forderung speist sich allerdings nicht aus einem Mangel an Gütern. Sondern aus der Sorge, dass die Lohnabhängigen für die Unternehmen andernfalls zu kostspielig werden könnten. »Arbeit war in Deutschland schon immer teuer«, erklärt die Deka-Bank, »aber angesichts einer schrumpfenden Bevölkerung drohen weitere Arbeitskostensteigerungen.« Um Arbeit tendenziell zu verbilligen, soll daher mehr Arbeitskraft verfügbar gemacht werden: längere Lebensarbeitszeit, Teilzeit zu Vollzeit, Anwerbung von Lohnabhängigen aus dem Ausland und mehr Druck auf inländische Arbeitslose. Der angepeilte Ertrag: Das höhere Arbeitsangebot drückt tendenziell auf den Lohn, was wiederum die Bereitschaft der Menschen stärkt, mehr und länger zu arbeiten.
Dazu kommt die Verbilligung der Arbeitskräfte durch die Abschaffung von Feier- und Urlaubstagen, durch eine Flexibilisierung der täglichen Maximalarbeitszeit, durch die Deckelung der Lohnnebenkosten und in der Folge der Sozialleistungen. Wurden Hartz-Reformen und die Agenda 2010 im Jahr 2003 noch mit der hohen Arbeitslosigkeit begründet, so gilt heute die geringe Arbeitslosigkeit als Grund für Sparsamkeit. »Die Merz-Agenda könnte einen kräftigen Schuss der Agenda 2010 von Altkanzler Gerhard Schröder gebrauchen«, tönt die »Bild-Zeitung«.
»Arbeit war schon immer teuer in Deutschland. Aber angesichts einer schrumpfenden Bevölkerung drohen weitere Steigerungen der Arbeitskosten.«
Deka-Bank
Der Mobilisierung zusätzlicher Arbeitskraft dient auch die Senkung des Bürokratieaufwandes – immerhin verbringen laut Bank KfW die Beschäftigten im deutschen Mittelstand beinahe sieben Prozent ihrer Wochenarbeitszeit mit der Erfüllung gesetzlicher Vorgaben. Daneben dringt die Politik vor allem auf die Erhöhung der Produktivität der Arbeitenden, sie sollen den Unternehmen pro Stunde und Tag mehr Umsatz und Ertrag generieren. »Unser Wohlstand, unsere sozialen Sicherungssysteme, aber auch die Funktionsfähigkeit unseres Landes beruhen darauf, dass wir produktiv sind«, sagte Linnemann.
In der Parole »Mehr Arbeit« steckt also die Forderung an die Lohnabhängigen, für die Unternehmen rentabler zu werden, ihr Kosten-Ertrags-Verhältnis zu optimieren. Darin sieht die Deutsche Bank die »vielleicht letzte Chance, Deutschlands über Jahrzehnte hinweg hart erkämpften Wohlstand für zukünftige Generationen zu sichern«. Am »hart erkämpft« ist erkennbar, dass Deutschland hier gegen andere angeht – gegen andere Standorte, die das gleiche Ziel mit den gleichen Methoden verfolgen.
Wettbewerbsfähigkeit – Arbeiter gegen Arbeiter
Zum Beispiel Frankreich: »Wir haben zu viele junge Menschen, die nur langsam in den Arbeitsmarkt eintreten«, klagt Frankreichs »Superminister« Éric Lombard, »wir haben zu viele ältere Menschen, die zu früh ausscheiden. Und wir haben etwas mehr Urlaub und Fehlzeiten als Deutschland. Zudem ist der Industrieanteil an unserer Wirtschaftsleistung unzureichend.« Oder die USA: Dort plant Präsident Donald Trump heftige Sozialkürzungen und verfolgt mit seiner Zollpolitik die Rückholung von Industriearbeitsplätzen aus dem Ausland, was die US-Autogewerkschaft UAW lobt: »Aggressive Maßnahmen«, seien nötig, »um Arbeitsplätze in der Autoindustrie zurückzubringen«. Das wiederum beklagt Kanadas Premierminister Mark Carney als »direkten Angriff auf die kanadischen Arbeiter«.
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Was sich in der Verteidigung heimischer Arbeitsplätze gegen das Ausland ausdrückt ist die Tatsache, dass die Regierenden in der Standortkonkurrenz ihre nationalen Arbeitsmannschaften gegeneinander antreten lassen, wobei jeder Standort versucht, die Produktivität seiner Arbeit zu erhöhen, um so die Arbeit andernorts zu entwerten. Man will Marktanteile importieren – und damit Arbeitslosigkeit exportieren.
Fleißig sein: Arbeit als Selbstzweck
Das erfordert allerorten eine nationale Kraftanstrengung. In Deutschland appelliert die Politik daher sowohl an die Einsatz- wie auch an die Verzichtsbereitschaft der Bevölkerung: Fleißig soll sie sein. »Wir wollen eine Agenda für die Fleißigen«, warb Christian Lindner (FDP) im Wahlkampf. CDU-Chef Merz befand, man müsse »die Tugenden wieder wertschätzen: Leistungsbereitschaft, Fleiß, Anstand«. Laut Olaf Scholz (SPD) ist »die Sozialdemokratie die Stimme der Fleißigen« und laut Björn Höcke (AfD) »waren Fleiß, Qualität, geistige Stärke einst das Fundament unseres Landes. Es braucht eine geistig-moralische Wende!« Dass der Fleiß so hoch im Kurs steht, ist kein Wunder, benennt er doch die Tugend, Arbeit als Selbstzweck zu verrichten. Dem Fleißigen ist der Lohn der Arbeit die Arbeit selbst. In Merz‘ Worten: »Arbeit ist ein Teil unserer Lebenserfüllung.« Und IfW-Chef Schularick erklärt uns via »Spiegel«, wie »Überstunden wieder Spaß machen«.
Seinen Dienst beim Bestreben, die nationale Arbeitsmoral zu stärken, leistet schließlich auch der Diskurs um die Migration, die »Mutter aller politischen Probleme« (Horst Seehofer, CSU): Denn in ihm ist alle Kritik an den hiesigen Zuständen ausgelöscht. Es geht stattdessen nur noch darum, wem das Privileg zuteilwird, in diese Zustände integriert zu werden. Teilhabe gilt als Vorrecht, das sich In- wie Ausländer durch harte Arbeit verdienen müssen – also durch ihre Teilnahme an der Konkurrenz um Arbeitsplätze.
Die Eigentümer dieser Arbeitsplätze wiederum dürfen in ihrem Fleiß bei der Geldvermehrung nicht behindert werden: Die Regierungskoalition hat Senkungen der Unternehmensteuern im Programm. Und »am oberen Ende der Einkommensverteilung muss Visionen einer Vermögenssteuer endgültig der Riegel vorgeschoben werden«, fordert die Deutsche Bank. »Unternehmerische Risikobereitschaft erfordert Gewissheit in dieser Frage.«
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