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ESC mit oder ohne Israel?
Auch nach dem ESC wird der Ausschluss des israelischen Fernsehens gefordert – was auch dem Programm der Netanjahu-Regierung entspricht
Nachdem der Österreicher JJ in Basel den diesjährigen ESC gewonnen hatte, sagte er: »Ich würde mir wünschen, dass der Eurovision Song Contest nächstes Jahr in Wien stattfindet.« Dann schob er nach: »Ohne Israel.« Dieser Zusatz hat Kraft, die Ursprungsidee des ESC zu sprengen: »united in music«.
Es war der Schweizer Marcel Bezençon, Vorsitzender der Programmkommission der Europäischen Rundfunkunion (EBU), der die Idee zum »Grand Prix Eurovision de la Chanson Européenne« hatte. Schon 1956 fand der erste Wettbewerb in der Schweiz statt. Die EBU wurde 1950 gegründet, um technische Innovationen im Rundfunk zu fördern. Ihre erste Großleistung war 1953 die Liveübertragung der Krönung Elisabeths II. Das erworbene Know-how floss in den Song-Contest ein.
Heutzutage gehören der EBU 68 Rundfunkanstalten aus 56 Ländern Europas, Nordafrikas und Vorderasiens an. Auch Marokko, Algerien, Tunesien, Libyen, Ägypten, Jordanien und der Libanon zählen dazu, aber nur Marokko nahm 1980 einmalig am ESC teil. Der Boykott der anderen Länder hängt vermutlich mit Israels Teilnahme zusammen, das seit 1973 dabei ist.
Im Laufe der Jahre entwickelte sich der ESC zu einem in sich geschlossenen System, das Einflüsse von außen auf seine ganz eigene Weise verarbeitet. Die ESC-Interpreten werden selten außerhalb dieser Bubble berühmt, innerhalb der Bubble aber werden sie verehrt wie religiöse Heilige. Nur wenige wie Abba oder Céline Dion schafften den Absprung in den weltweiten Musikmarkt.
Meistens ist es erst das große Finale, das die Weltöffentlichkeit die ESC-Paradiesvögel bestaunen lässt. Seit den 90er Jahren öffnete sich die Bubble zunehmend. 1997 trat mit dem Isländer Paul Oscar erstmals ein offen schwuler Künstler auf. Seither hat sich der ESC zur Avantgarde queerer Sichtbarkeit gemausert. Die israelische Transperson Dana International gewann 1998 mit ihrem Song »Diva« und ebnete den Weg für weitere queere Sieger wie die österreichische Dragqueen Conchita Wurst (2014), die non-binäre Schweizer Person Nemo (2024) und dieses Jahr den schwulen JJ.
Mit der Rückkehr Benjamin Netanjahus an die Regierung im November 2022 geriet das liberale Israel unter Druck. Die rechts-autoritäre Koalition griff sofort den öffentlich-rechtlichen Sender Kan 11 an, der den ESC-Vorentscheid veranstaltet. Nach dem Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober 2023 mit über 1200 Toten änderte sich alles. Israels Militär schlug hart zurück – mit bisher rund 53 000 Toten in Gaza. Der Internationale Strafgerichtshof stellte einen Haftbefehl gegen Netanjahu wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen aus. Währenddessen feierten weltweit Hamas-Anhänger den Terroranschlag.
Anstatt sich solidarisch mit der liberalen Szene in Israel zu zeigen, forderten einige EBU-Mitglieder Israels Ausschluss aus dem ESC. Die israelische Teilnehmerin Eden Golan wurde 2024 beim Contest in Malmö heftig angefeindet. Die aktuelle israelische ESC-Vertreterin Yuval Raphael wurde in Basel ausgepfiffen und mit Kehlenschnitt-Gesten bedroht. Unter dem Motto »ESCalate for Palestine« formierte sich sogar eine ganze Kampagne gegen sie. Auch der Vorjahresgewinner Nemo forderte gemeinsam mit rund 70 Ex-Teilnehmern den Ausschluss Israels. Und als Raphael im Finale durch das Publikumsvoting auf Platz zwei der Gesamtwertung stieg, zweifelten Spanien und weitere EBU-Mitglieder daran, ob es dabei mit rechten Dingen zugegangen war. Dass Raphael beim Hamas-Massaker auf dem Nova-Festival nur knapp dem Tod entronnen war, weil sie sich unter Leichen versteckt hatte, spielte bei alledem keine Rolle.
In dem bereits erwähnten Interview berief sich ESC-Gewinner JJ für seine Forderung nach einem Ausschluss Israels auf den bereits erfolgten Ausschluss Russlands wegen dessen Kriegs gegen die Ukraine. »Beide Länder sind Aggressoren«, erklärte JJ. »Sie haben beide einen Krieg proaktiv provoziert.« Diese ungeheuerliche Äußerung hat er zwar später zurückgenommen, sie zeigt aber, woher sein Denken kommt.
Am eng mit der ESC-Bubble verbundenen Christopher Street Day fand 2024 in Berlin neben der offiziellen Parade auch die Gegenveranstaltung »Internationalist Queer Pride« statt, die sich selbst als antikolonial, antirassistisch und antikapitalistisch bezeichnete. Zu »Freiheit für Palästina«-Gesängen tanzte eine Handvoll Aktivistinnen, gekleidet in T-Shirts und Stolas mit dem schwarz-weißen Palästina-Muster, teils auch in Kufiyas als Bandeau-Tops oder in gebunden Röcken, kombiniert mit Netzstrumpfhosen.
Die palästinasolidarische Bewegung ist geprägt durch die Theoreme der postkolonialen Theorie, die beispielsweise von der queeren Philosophin Judith Butler vertreten wird. Darin gilt Israel als zionistische Kolonie, während islamistische Gruppen und Parteien wie die Hamas als antikoloniale Befreiungsbewegungen angesehen werden. Dass die Hamas die queere Community in Gaza bedroht und verfolgt, scheint den postkolonialen Aktivisten entgangen zu sein. Tatsache ist, dass gerade das liberale israelische Milieu für queere Palästinenser ein sicherer Hafen ist. Und genau dieses Milieu wird durch die Regierung Netanjahu bedrängt. Dass sich der schwule israelische Soldat Yoav Atzmoni auf einem völlig zerstörten Schlachtfeld in Gaza mit der Regenbogenflagge fotografieren ließ, wurde unter queeren Menschen nicht nur positiv aufgenommen. Die LGBTQ-Community könne nicht als Rechtfertigung für Israels militärische Bestrebungen herhalten, kritisierte etwa der libanesische Musiker Hamed Sinno. Es handle sich bei der Aktion um »Pinkwashing«.
Die Dinge liegen also komplizierter, als es die dichotomische Weltsicht einiger ESC-Teilnehmer und -Fans zulässt. Human wäre es, für die Komplexität der Situation die Sinne zu schärfen und nicht Sängerinnen wie Yuval Raphael mit der Regierung Netanjahu zu verwechseln.
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