Podcast »Wild Wild Web«: Licht im Ei

Der BR-Podcast »Wild Wild Web« erkundet Internet-Geschichten, die sonst immer nur eine Zeitungsmeldung wert sind

  • Klaus Ungerer
  • Lesedauer: 4 Min.
Mit jeder neuen Generation keimt auch die Hoffnung auf eine weniger bescheuerte Welt.
Mit jeder neuen Generation keimt auch die Hoffnung auf eine weniger bescheuerte Welt.

Dass das Internet eine unermessliche Schatzkammer der Geschichten sein könnte, ist so eine Ahnung, die man als graumelierter Mensch hat, und sie wird begleitet von einer weiteren Vermutung: dass man viele Dinge gar nicht mehr mitkriegt, und wenn man sie mitkriegt, versteht man sie nicht. Oder nur halb. Oder verkehrt. Wissendes Grinsen der nachgewachsenen Generation bestätigt einen regelmäßig darin, dass man aus dem Checkerwesen längst ausgeschieden ist und dass unablässig neue Wissensinhalte, neue Kontexte, neue Selbstverständlichkeiten und Tabus in der Schatzkammer abgestellt werden; neue Informationen, die, wenn man Glück hat, mal in Form einer Meldung in einer Zeitung auftauchen (das sind diese Dinger aus Papier).

Unverzagt flattert die nachgewachsene Generation in dieser Schatzkammer umhert, auch andere Dinge gelingen ihr mit spielerischer Leichtigkeit: Etwa hätte man es als alter Griesgram für unmöglich gehalten, dass irgendwo im Reich des öffentlich-rechtlich organisierten Gebührenfunks etwas Gutes entstehen kann. Die jungen Menschen kümmert das gar nicht. Sie produzieren einfach einen Podcast, noch bevor sie selbst in den Gebührenmahlstrom plumpsen, sie tun es als Nachwuchsjournalisten der Deutschen Journalistenschule in München – dann, simsalabim, passiert ein kleines Wunder, ein Podcast wie »Wild Wild Web« findet tatsächlich ein Plätzchen beim Bayerischen Rundfunk, und da erforschen die jungen Leute dann die tollsten Netzgeschichten.

»Der mysteriöseste Song im Internet« etwa ist so eine Geschichte, die irgendwann mal an uns vorübergebrettert ist und die wir halb verstanden, halb vergessen haben. In zwei Folgen wird die Geschichte minutiös nachverfolgt: wie ein anonymer Song von einer Radiomitschnitt-Kassette aus den 80er Jahren sich partout von niemandem, auch von einer global agierenden Schwarmintelligenz nicht, identifizieren und wiederfinden lässt. Wie sich auf der Suche ein Panoptikum an Menschen und Geschichten entfaltet. Und wie die Antwort auf das Rätsel dann ein paar graumelierte norddeutsche Herren sind, die in den 80er Jahren eine Band hatten und deren Song es wahrscheinlich genau ein Mal in den NDR-Rundfunk geschafft hatte – bevor sie nun, 40 Jahre später, damit berühmt geworden sind. Wunderbar ist auch die Recherche nach dem oft gesehenen, aber nie ganz kapierten Begriff »Talahon«, den die jungen Leute einem umstandslos erklären können, wenn man sie ein bisschen füttert mit Bier, Chips und Mezcal: Dieses seit Kurzem grassierende Wort meint einen bestimmten klischeehaften Typus des jugendlichen Unterschichtsmenschen, und man hätte nie erwartet, dass sich dazu tatsächlich ein Urheber finden lässt und eine Geschichte, die lustig, auch ein kleines bisschen traurig und dabei sehr charmant ist.

Die Podcasterin spricht mit dem besorgten Influencer ebenso wie mit dem designierten Taubenkiller. Ihr entgeht das Kuriose beider Parteien nicht.

Mindestens ebenso wichtig wie die Themen sind in jedem Podcast die Hosts, und da leisten André Dér-Hörmeyer und Janne Knödler eine so gute Arbeit, dass sie sich kaum wie Arbeit anfühlt: Während einem sonst so oft die Eitelkeit und empfundene Wichtigkeit Medienschaffender entgegenstrotzt, meint man hier eine echte Neugier zu spüren.

Diese Neugier lässt sich von kritischem Geist leiten, aber auch ein transparenter emotionaler Zugang ist nicht verboten: In einer Folge der aktuellen Staffel folgt Janne Knödler dem Influencer Malte, der als Taubenfreund berühmt geworden ist und sich mit wehenden Fahnen in die hessische Lokalpolitik einmischt, als man in Limburg beschließt, ein paar hundert dieser Vögel per Genickbruch zu töten.

Die Podcasterin spricht mit beiden Seiten, mit dem besorgten, feinfühligen Influencer ebenso wie mit dem designierten Taubenkiller. Ihr entgeht auch das Kuriose beider Parteien nicht. Und doch lässt sie sich dann, in einem Taubenhaus, auf einem Dach, auch anrühren von einer alten Dame, die mit ihrer Taschenlampe in ein Taubenei hineinleuchtet, in dem ein Vogelembryo pulsiert. Da gelingt ein Zugriff auf ein Thema, der ganzheitlich ist, ohne doof zu sein und ohne den Zuhörer in eine Ecke zu drängen; offenen Auges, funktionierenden Hirns, wachen Herzens.

Alle Folgen »Wild Wild Web – Geschichten aus dem Internet« finden sich in der Audiothek der ARD.

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