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»Egal, was Papa oder Mama macht: Das Kind will nach Hause«

Fünf Jahre hat Daniel Abma für seinen Dokumentarfilm »Im Prinzip Familie« in einer Wohngruppe für Kinder recherchiert. Ein Gespräch

  • Interview: Inga Dreyer
  • Lesedauer: 7 Min.
Erzieher*innen werden nicht mit Vornamen oder »Papa« oder »Mama« angesprochen. Aber ein bisschen familienähnlich ist es trotzdem.
Erzieher*innen werden nicht mit Vornamen oder »Papa« oder »Mama« angesprochen. Aber ein bisschen familienähnlich ist es trotzdem.

In Ihrem Film »Im Prinzip Familie« geht es um eine Wohngruppe. Was ist das für eine Art Familie, die Sie porträtieren?

Die fünf Jungs und ihre Erzieher*innen wohnen im Prinzip zusammen wie eine Familie und gehen durch dick und dünn. Sie erleben alles, was dazugehört – also auch Gutenachtgeschichten lesen, Streit schlichten, ein Kind zu trösten, wenn es versucht hat, seine Mama zu erreichen, aber sie geht nicht ans Telefon. Dabei lassen sich Erzieher*innen siezen, sie heißen Frau Wagner, Herr Wagner und Herr Gerecke, werden nicht mit Vornamen oder »Papa« oder »Mama« angesprochen. Im Film sagt eine Erzieherin: Wir wollen keine Ersatzeltern sein. Die Eltern bleiben die Eltern. Aber ein bisschen familienähnlich ist es trotzdem.

Manchmal kuscheln die Erzieher*innen auch mit den Kindern, aber lassen sich gleichzeitig siezen. Ist dieser Balanceakt nicht manchmal schwierig?

Bei allen, die dort arbeiten, gibt es dieses Nähe-Distanz-Thema, auch wenn sie sagen: Ich habe mich total abgeschirmt. Es berührt schon, wenn ein Kind auszieht. Ich finde es schön, dass das so ist und dass in der Wohngruppe auch Nähe erlaubt wird. Denn ich denke schon, dass die Kinder das brauchen. Im Film gibt es eine Szene, in der ein Kind sagt: »Frau Wagner, Sie kriegen jetzt ne Knuddel-Attacke.« Und dann wird geknuddelt. Sie lässt das zu. Das machen nicht alle Erzieher*innen. Manche sind auch richtig rough, was auch schön ist. Alle finden ihren eigenen Weg und bilden zusammen die ganze Palette ab. Das ist dann tatsächlich wie eine Familie.

Bei der Premiere beim Festival DOK Leipzig hat Frau Wagner davon erzählt, wie ihre Tochter darauf reagiert hat, dass sie diesen Job bekommen hat. Sie hat gefragt: »Sagen die Kinder dann Mama zu dir?« Als die Mutter sagte: »Nee, sie sagen ›Frau Wagner‹«, war es für die Tochter okay.

Interview


Daniel Abma wurde 1978 in den Niederlanden geboren, studierte dort Grundschulpädagogik und später Filmregie an der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf in Potsdam. Er arbeitete zuerst als Medienpädagoge in Berlin und Brandenburg. Seit 2017 arbeitet er als Dozent für Dokumentarfilmregie an der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf. In seinen Dokumentarfilmen – »Nach Wriezen« (2012), »Transit Havanna« (2016), »Autobahn« (2019) – beschäftigt er sich mit sozialen Themen. Seine aktuelle Doku »Im Prinzip Familie« feierte Ende Oktober 2024 Premiere beim Festival DOK Leipzig und gewann dort den ver.di-Preis für Solidarität, Menschlichkeit und Fairness.

Aus welchen Gründen leben die Kinder in der Wohngruppe?

Das ist ganz unterschiedlich. Es sind alles Kinder, die ein Päckchen zu tragen haben. Das kann daran liegen, dass die Eltern zwar sehr viel Liebe geben, aber wegen äußerer Umstände überfordert sind. Es kann auch sein, dass zum Beispiel ein Elternteil im Gefängnis sitzt oder Eltern während der Schwangerschaft Substanzen konsumiert haben und das Kind deshalb Auffälligkeiten hat. Grundsätzlich sind es Kinder, die im Moment nicht zu Hause wohnen können. Die Hoffnung ist, dass in dieser Wohngruppe eine Art von Stabilisierung stattfindet und die Kinder nach einer gewissen Zeit wieder zu ihren Eltern zurückkönnen. Manchmal klappt das, manchmal nicht. Was mich total überrascht hat, war diese unabdingbare Loyalität der Kinder den Eltern gegenüber – unabhängig davon, wie herausfordernd die Situation zu Hause ist. Egal, was Papa oder Mama macht: Das Kind will nach Hause. Das hat mich total gerührt.

So eine Wohngruppe ist ein intimer Raum, in den man von außen normalerweise keinen Einblick hat. Wie sind Sie auf die Einrichtung gestoßen?

Ich habe vor zwölf Jahren den Film »Nach Wriezen« über junge Männer gemacht, die aus der Haft entlassen wurden. Sie haben während der Dreharbeiten Kinder bekommen, von denen ein Teil heute in Jugendhilfeeinrichtungen lebt. Da habe ich durch diesen konkreten Fall so eine Art Kreis gesehen. Das war einer der Impulse für den Film. Außerdem habe ich bei einer Podiumsveranstaltung zu »Nach Wriezen« einen Mitarbeiter von einem Jugendamt kennengelernt. Er hat mir seine Visitenkarte gegeben und meinte: »Daniel, wenn du mal ein neues Thema suchst, kannst du mich anrufen und dann quatschen wir. Wer weiß, vielleicht inspiriert es dich?« Das habe ich viele Jahre später gemacht. Inzwischen arbeitete er bei einem großen Träger. Einen Tag lang hat er mich durch fünf verschiedene Einrichtungen geführt, und am Ende waren wir in diesem Haus am See. Ich war komplett erschöpft von den vielen Eindrücken an diesem Tag, aber dann sind wir auf diesem Schotterweg durch den Wald gefahren, auf einmal öffneten sich die Bäume, und wir waren mitten in der Natur. Da war etwas ganz Spannendes, da waren tolle Menschen, und ich wurde mit offenen Armen empfangen, obwohl das eine geschlossene Einrichtung ist. Ich habe ganz viele Fragen gestellt, und da hat es geklickt.

Wann haben Sie entschieden, dort einen Film zu drehen?

Ich war seit 2018 immer wieder zu Besuch. Es gibt auf dem Gelände Bungalows für Eltern. Da habe ich ab und zu eine Woche gewohnt und beim Alltag mitgemacht. Abends auf der Terrasse, wenn die Kinder im Bett lagen, habe ich mit den Erziehenden gesprochen und viel über ihren Beruf und ihr Leben erfahren. So ist die Idee zum Film entstanden. Es war also eine sehr lange Recherche. Anfänglich habe ich gedacht, es geht um die Kinder. Langsam habe ich dann festgestellt: Das, was mich am meisten interessiert, sind die Menschen, die dort arbeiten.

Trotzdem spielen auch die Kinder eine wichtige Rolle. Das heißt: Sie mussten auch die Eltern überzeugen. Wie war das?

Es war schön. Die Eltern waren sehr offen und interessiert. Viele von ihnen waren zu Besuch, als ich gerade dort war. Ich war wie ein Praktikant und konnte unkompliziert Kontakte knüpfen. Ich habe immer gesagt, dass ich für ein Dokumentarfilmprojekt recherchiere. Damals war ja noch ganz offen, was daraus wird. In den fünf Jahren der Recherche und Vorbereitung haben wir auch geklärt, welche Rolle die Eltern spielen. Sie mussten natürlich ihr Einverständnis geben – genauso wie das Jugendamt und der Vormund. Das ganze System musste hinter diesem Film stehen, sonst hätten wir das nicht machen können. Das war schon manchmal herausfordernd. Gerade vom Jugendamt kam oft erst mal eine Abwehrreaktion, die ich auch nachvollziehen konnte. Aber wir konnten deutlich machen, dass wir niemanden schlecht darstellen oder anprangern wollen. Wir möchten einfach die Realität abbilden. Wir zeigen einen berührenden und intimen Einblick in die Arbeit, die dort passiert. Alle Menschen sind bemüht, das Beste zu geben. Auch die Eltern. Sie sind den mutigen Schritt gegangen und haben Hilfe angenommen.

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Wie haben Sie es geschafft, ein Vertrauensverhältnis aufzubauen, das nötig ist, um solche intimen Einblicke in den Alltag zu bekommen?

Im Laufe der Jahre wurde ich wie ein Teil vom Mobiliar. Frau Wagner hat mal gesagt: Das Filmteam, das sind Onkels und Tanten für die Kinder. Sie kommen ab und an zu Besuch, das ist schön. Und dann sind sie wieder eine Weile weg. Genauso war es. Die Kinder freuen sich immer, wenn Besuch kommt – und mit dem Kamerateam wurde es noch interessanter. Bevor wir mit dem Filmen angefangen haben, haben wir einen medienpädagogischen Workshop gemacht, bei dem sie selbst auch filmen konnten und probiert haben, was die Reichweite von einer Tonangel ist und was die Kamera alles sehen kann.

Nach der ersten Probedrehwoche dachte Frau Wagner, das wird nichts. Die Kinder waren ständig aufgedreht und haben in die Kamera geguckt und alles angefasst. Aber nach einer Weile gab es andere Sachen, die interessanter waren. Dann war das kein Thema mehr, wenn die Kamera auch bei intimen Momenten dabei war.

Gab es die Gefahr, dass die Kinder zu viel preisgeben, weil sie die Konsequenzen nicht abschätzen können?

Wir haben mit den Kindern etabliert, dass sie »Stopp« sagen konnten, wenn sie nicht gefilmt werden wollten. Einmal gab es eine Szene, in der es um die Zukunft eines Kindes ging. Da war es natürlich ängstlich, weil es nicht wusste, wie das Gespräch ausgeht. Frau Wagner hat dann mit dem Jungen geredet und gefragt, ob er sich vorstellen könnte, dass wir filmen und er nachher entscheidet, ob wir das verwenden dürfen. Darauf hat er sich eingelassen – und es später erlaubt. Wir haben versucht, transparent und auf Augenhöhe zu arbeiten. Die Kinder sind minderjährig. Es bleibt also dabei, dass wir eine sehr große Verantwortung haben. Die Erzieher*innen haben immer mitgedacht und auch die Psycholog*innen, die auf dem Gelände arbeiten, waren stark involviert – auch bei der Postproduktion. Wir haben ihnen ganz früh einen Rohschnitt gezeigt und besprochen. Wir haben uns damit wirklich nackig gemacht in einem frühen Stadium, aber es war sehr hilfreich. Wir hatten zum Beispiel eine Szene, in der ein Kind zusammengeschlagen wurde. Das haben wir rausgenommen, um das Kind zu schützen. Bei einem Ausraster haben wir die Stimme so verändert, dass das Kind sich selbst hinterher nicht mehr erkannt hat. Bei ein paar Sachen waren wir auch anderer Meinung und konnten unseren Standpunkt erklären, das war ein schöner Austausch.

»Im Prinzip Familie«, Deutschland 2024. Regie: Daniel Abma, 91 Min. Kinostart: 5.6.

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