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Frankfurt: Noch keine Antwort auf Crack gefunden
Frankfurt streitet mit dem hessischen Ministerpräsidenten Boris Rhein um den richtigen Umgang mit Drogensüchtigen
Die Burger sind riesig, das Bier teuer. Die Außentische der Gastronomie in der Kaiserstraße sind vollbesetzt. In den Straßen staut sich die erste Mai-Hitze. Es ist, da sind sich alle Wirte einig, eine Traum-Location mit viel Laufkundschaft. Wer vom Frankfurter Hauptbahnhof zu den Wolkenkratzern will, muss hier durch. Doch diese Idylle trügt.
Wer nur wenige Straßen weiter geht, taucht in eine andere Realität ein. In den Hauseingängen campieren Menschen, gezeichnet von harten Drogen, kaum ansprechbar, immer auf der Suche nach dem Geld für die nächste Dosis, das nächste High. Die Drogenszene ist schon seit 30 Jahren fester Bestandteil des Viertels. Aber sie hat sich verändert. Früher spritzte man Heroin. Heute raucht man Crack, eine Droge, die schnell süchtig macht, kurz wirkt und die dazu führt, dass man ständig Nachschub braucht. Diese Entwicklung stellte die Stadt vor eine neue Herausforderung.
Als Konzept für den Umgang mit dem Drogenproblem hatte die Metropole den »Frankfurter Weg« entwickelt. Nachdem die Stadt in den Neunzigerjahren deutschlandweit führend bei der Zahl der Drogentoten geworden war, führte man ein Konzept ein, das auf Beratung und Prävention setzt. Man bot den Abhängigen Konsumräume an, versuchte den Drogenhandel einzudämmen und Therapiekonzepte einzuführen. Die Stadt wollte so die Drogen-Hotspots auflösen. Gemessen an der Zahl der Drogentoten hat das auch funktioniert: Sie ist stark gesunken. Doch die Szene selbst ist gewachsen und auf Crack umgestiegen, während zugleich Gastronomen, Hoteliers und Immobilienspekulanten das Bahnhofsviertel entdeckten.
Das sorgt für Konflikte, die bislang ungelöst sind. Nur einen Straßenzug vom Hauptbahnhof entfernt stehen an einem Morgen drei Frauen vor dem Eingang einer Rechtsanwaltskanzlei in der Niddastraße und rauchen Zigaretten. »Wir haben das aus der Zeitung erfahren. Niemand von der Stadt hat mit uns gesprochen«, empört sich Annette Winckler. Dabei gäbe es aus ihrer Sicht viel zu reden: Die Stadt will nämlich ein Gebäude in der Nähe kaufen, dort ein auf Crack spezialisiertes Hilfezentrum einrichten. So hat es der Magistrat Mitte Mai beschlossen. Zwölf Millionen Euro für den Kauf, fünf Millionen jährliche Betriebskosten – eine Investition, die früher kaum Widerspruch hervorgerufen hätte.
Noch vor einigen Jahren hätte das wahrscheinlich kaum zu Debatten geführt, immerhin haben alle Parteien in der Stadtpolitik den »Frankfurter Weg« mitgetragen. Doch inzwischen bröckelt der Konsens über den »Frankfurter Weg«. Im März stellte Ministerpräsident Boris Rhein, ein Christdemokrat, in einem Gastbeitrag in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« einen aus sieben Punkten bestehenden Plan vor. Zusammengefasst: Die Hilfeeinrichtungen im Bahnhofsviertel sollen geschlossen und die Drogenszene von der Polizei vertrieben werden, mit Razzien und Festnahmen. Außerdem sollte die medizinische und psychiatrische Versorgung verbessert werden. Die Frankfurter Stadtkoalition aus SPD, Grünen, FDP und Volt war überrascht von dem Vorstoß: Drogenpolitik sei Sache der Kommunen, sagen sie.
Als Antwort auf diese Kritik aus Wiesbaden präsentierte der sozialdemokratische Oberbürgermeister Mike Josef seine eigene Sicht der Dinge. Bei den Drogenabhängigen sei ihm aufgefallen, dass 70 Prozent von ihnen gar nicht aus Frankfurt stammten; die Stadt ziehe sie »wie ein Magnet« selbst aus entfernteren Regionen an. Jede Stadt und jede Gemeinde wäre damit überfordert, meinte er. Frankfurt würde gerne Verantwortlichkeiten abgeben. Die Kommunen im Umland sollten eigene Hilfsangebote aufbauen. Und finanzieren, so lautet sein Appell.
Doch nichts deutet darauf hin, dass die Städte und Gemeinden aus dem Umland das freiwillig tun werden. Deshalb verlangen die Grünen im Landtag ein Gesetz, das Kommunen dazu verpflichtet, Einrichtungen aufzubauen und zu betreiben. Bislang blieb der Vorschlag aber erfolglos. Denn weder in der hessischen Landespolitik noch in den Kommunen des Rhein-Main-Gebiets wird darin bislang ein Problem gesehen. Der Grund dafür liegt auf der Hand.
»Es ist frustrierend! Da hast du dann jemanden so weit, dass er die Sucht loswerden will. Und dann findest du keine Termine beim Psychiater oder Therapeuten.«
Bülent Sozialarbeiter im Bahnhofsviertel
Kaum hat man nämlich mit der Bahn den Frankfurter Hauptbahnhof verlassen, ist man auf dem Land. Der Großraum Frankfurt besteht aus vielen kleinen Ortschaften mit wenigen größeren Städten. Nennenswerte Drogenszenen gibt es hier nicht. Was also soll man mit Beratungsstellen und Hilfseinrichtungen anfangen? Vielleicht stammen die Abhängigen von dort. Aber sie sind weg. In Frankfurt.
Für die Helfer vor Ort ist diese Debatte um Zuständigkeiten jedoch zweitrangig. »Wenn ich einen Abhängigen habe, dann braucht der jetzt hier Hilfe,« sagt Bülent, der für eine Hilfsorganisation im Bahnhofsviertel arbeitet. Er möchte nur seinen Vornamen preisgeben. Denn in der derzeitigen angespannten Atmosphäre ist jedes Gespräch mit Journalisten etwas, was man genau plant, zusammen mit den Pressesprechern, sofern es welche gibt. Den Vorschlag von Josef und den Grünen hält er nicht für praktikabel. »Wir können den Leuten nicht sagen, dass wir nicht zuständig sind, weil sie ja aus Darmstadt oder Kassel kommen.« Als das neue Drogenhilfezentrum vorgestellt wurde, hatte Oberbürgermeister Josef auch angekündigt, dass dort nur Menschen aus Frankfurt betreut werden sollen. »Unrealistisch« sei das, finden Polizisten, Streetworker und auch viele Kommentatoren in der Lokalpresse.
Doch die Polizei unterstützt grundsätzlich die Richtung: »Wir erhoffen uns, dass das den Zustrom deutlich verändern wird«, sagte Polizeivizepräsident Christian Vögele Mitte Mai mit Blick auf die Beschränkung des neuen Hilfsangebots auf jene, die in Frankfurt gemeldet sind. Zudem kann er auf dem Dialogforum erste Erfolge für die anwesenden Bürger und Gastronomen vermelden: Eine Zählung habe ergeben, dass die Zahl der Schwerstabhängigen von 350 Anfang 2022 auf 200 im Frühjahr dieses Jahres zurückgegangen sei. Das liege wahrscheinlich daran, dass Süchtige nach der Pandemie verstärkt in die schon bestehenden Hilfseinrichtungen gelenkt worden seien. Auch die anwesenden Gastronomen berichteten von einer gewissen Entspannung der Lage.
Im Alltag stauen sich morgens um sechs Uhr im Hauptbahnhof die Menschen vor den Café-Buden. Sie sind auf dem Weg zur Arbeit. Mittendrin ein Mann in schmutziger Kleidung, der mit einiger Verzweiflung auf die belegten Brötchen in der Vitrine und den Kaffee blickt. Er sagt keinen Ton, bettelt nicht, spricht niemanden an. Es vergeht nur wenig Zeit, bis ihm gut gekleidete Leute Kaffee, Wasser und Sandwiches in die Hand drücken. Auch das erlebt man im Frankfurter Bahnhof und in dem Viertel drumherum: Menschen helfen denen, die verelendet sind.
Diese Solidarität prägt auch die Haltung der Anwohner. Obwohl nur knapp 4000 Menschen in dem halben Quadratkilometer großen Bahnhofsviertel leben, ist ihre Stimme wichtig. Viele von ihnen betonen immer wieder, dass Drogensucht eine Krankheit sei. Die Wut, die manche Medien zu streuen versuchen, sie ist hier nicht zu spüren. Viele hier sind enttäuscht von der Kommunikation durch die Stadtregierung. Auf Vorschläge von Anwohnern und Geschäftsleuten reagiert sie spät und speist sie oft mit Phrasen ab. In die Planung des neuen Drogenhilfezentrums seien sie auch nicht eingebunden, lautet ein Vorwurf. Aber dass es eine gute Idee ist, die Abhängigen von der Straße zu holen und die Angebote unter einem Dach zu ballen, das scheint hier unumstritten zu sein.
Und zugleich greifen die Maßnahmen zu kurz. Denn im Bahnhofsviertel werden strukturelle Probleme sichtbar, die sich anderswo – eher in den abgelegenen Hochhausburgen – verstecken. Der Mangel an Sozialwohnungen führt dazu, dass Wohnungslose ohne Obdach bleiben. Die Schwierigkeiten, Ärzte und Therapeuten mit freien Terminen zu finden, verhindern eine effiziente Behandlung der Drogensucht – und der vielen Krankheiten, die sie mit sich bringt. »Es ist wahnsinnig frustrierend«, sagt Bülent, der Sozialarbeiter: »Da hast du dann jemanden so weit, dass er die Sucht loswerden will. Und dann findest du keine Termine beim Psychiater oder Therapeuten.« Genau hier setzt seine Hoffnung für das neue Hilfezentrum an. Er hofft darauf, dass im neuen Hilfezentrum auch Ärzte beschäftigt werden.
Eigentlich wäre zu erwarten gewesen, dass der Sieben-Punkte-Plan von Ministerpräsident Rhein in der Stadt auf große Zustimmung stößt, schließlich erfährt eine Law-and-Order-Politik zurzeit viel Zuspruch. Aber in Frankfurt nicht. Razzien sowie eine Verteilung der Hilfeeinrichtungen über die gesamte Stadt könnten dazu führen, dass die Drogenszene in die Wohnviertel umzieht. Viele erinnern sich auch noch an die Neunzigerjahre, als die Drogenszene die Taunusanlage am Rande des Bankenviertels in Beschlag genommen hatte. Auch rund um die Zeil, Frankfurts Einkaufsmeile, wurde viel gedealt. Es gab Razzien und Versuche, die Drogenszene zu zerschlagen. Gebracht hat es damals nichts.
Diese Erfahrung prägt Frankfurts heutige Strategie: Zu der gehört auch der Umbau der Kaiserstraße zu einer Fußgängerzone. Dadurch soll das Bahnhofsviertel attraktiver werden und seinen schlechten Ruf loswerden. Aber von der Drogenszene und die Kriminalität, die mit ihr kommt, ist auf dieser zentralen Straße im Viertel ohnehin wenig zu sehen. Junge Männer mit Westen, auf denen »Ordner« oder »Security« steht, sollen für ein Gefühl der Sicherheit sorgen.
Allerdings suchen nach diesem verruchten Flair inzwischen manche auch ganz gezielt, wie aus Gesprächen mit Touristen klar wird: »Ich bin hier, um das Zombieland zu sehen«, sagt ein junger Brite; so hatte eine britische Boulevardzeitung die Gegend vor der Europa-Meisterschaft bezeichnet. Das Frankfurter Bahnhofsviertel ist längst zu einer Attraktion geworden. Auch wenn sich in der Stadt wohl niemand über einen solchen Voyeurismus freuen kann.
Am Ende geht es aber nicht um Stadtmarketing oder politische Profile. Es geht um Menschen wie den Mann, der morgens hungrig vor dem Backstand steht. Um Bülent, der frustriert nach Therapieplätzen sucht. Um Annette Winckler, die sich mehr Mitsprache wünscht. Um die Pendler, die jeden Morgen durch das Viertel strömen. Sie alle teilen sich diesen halben Quadratkilometer – und müssen einen Weg finden, miteinander zu leben.
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