Klimaschutz wird zur Pflicht

Ein Gutachten des Internationalen Gerichtshofs könnte die Klimadiplomatie grundlegend verändern

Vanuatus Klimaminister Seit’ an Seit’ mit Klimademonstrant*innen in Den Haag
Vanuatus Klimaminister Seit’ an Seit’ mit Klimademonstrant*innen in Den Haag

Klimaschutz beruht auf Freiwilligkeit, heißt es immer wieder. Die Länder entscheiden selbst, was sie beitragen wollen und können, um eine gefährliche Destabilisierung des Klimasystems zu verhindern. Diese Sichtweise ist einer der Gründe, warum es beim Kampf gegen den Klimawandel viel zu langsam vorangeht. Doch seit dieser Woche gilt sie nicht mehr.

Am Mittwochnachmittag hat der Internationale Gerichtshof (IGH) eine rechtliche Klarstellung vorgelegt, die es in sich hat. Im Friedenspalast in Den Haag, wo das Hauptrechtsprechungsorgan der Vereinten Nationen seinen Sitz hat, verlas Gerichtspräsident Yuji Iwasawa zwei Stunden lang die Kernaussagen eines Gutachtens zum Thema. Die Staaten – und zwar alle – haben demnach umfassende völkerrechtliche Verpflichtungen zum Schutz des Klimas. Verstoßen sie dagegen, können sie zur Rechenschaft gezogen werden. Fachleute und Nichtregierungsorganisationen sprechen von einem Durchbruch und einem »Big Win«. »Das Gutachten stellt einen historischen Schritt für die internationale Klimapolitik dar«, sagt der Klimaforscher Carl-Friedrich Schleussner von der Humboldt-Universität Berlin. »Es ist vielleicht das wichtigste Dokument zum globalen Klimaschutz seit Jahren.«

Das IGH hat sich erstmals mit der Klimafrage beschäftigt. Angestoßen wurde das Gutachten von einem der kleinsten und zugleich verletzlichsten Staaten der Welt: Vanuatu. »Wir stehen an vorderster Front einer Krise, die wir nicht verursacht haben«, sagte Ralph Regenvanu, Klimaminister des winzigen Inselstaates, der rund 1750 Kilometer östlich von Australien liegt. Vanuatu zählt zu den wenigen Ländern, deren CO2-Ausstoß negativ ist. Es bindet durch die Waldflächen mehr Treibhausgase, als es ausstößt. Trotzdem leidet der Pazifikstaat besonders stark unter den Folgen der Erderwärmung: Meeresspiegelanstieg, zerstörerische Zyklone, versalzte Böden und der Verlust von Lebensraum sind Teil des Alltags. 2023 trafen gleich zwei wirtschaftlich verheerende Wirbelstürme das Land innerhalb weniger Tage.

Begonnen hatte die Bewegung 2019 in einem Klassenzimmer auf Vanuatu. »Für uns als Jugendliche aus den am stärksten betroffenen Regionen ist das Gutachten mehr als ein juristisches Dokument«, erklärte Vishal Prasad von der Organisation Pacific Island Students Fighting Climate Change. »Es ist eine Chance, das Machtverhältnis zu verändern.«

Unterstützt wurde die Initiative Vanuatus letztlich von 132 Staaten, darunter Deutschland. Sie brachten eine Resolution in die UN-Generalversammlung ein, die im März 2023 ohne Gegenstimme angenommen wurde. Damit erging an das höchste UN-Gericht der Auftrag, ein Rechtsgutachten zu erstellen, das zwei zentrale Fragen klärt: Welche völkerrechtlichen Verpflichtungen haben die Staaten zum Schutz des Klimas? Und welche Rechtsfolgen ergeben sich für Staaten, die durch ihre Handlungen und Unterlassungen dem Klimasystem und der Umwelt erheblichen Schaden zufügen? Im Dezember 2024 führte der IGH über zwei Wochen die wohl größte Gerichtsanhörung der Geschichte durch. 96 Staaten und elf übernationale Organisationen, darunter die EU und die Organisation erdölexportierender Länder, gaben in Den Haag Stellungnahmen ab.

Im nun vorliegenden Gutachten gibt das Gericht auf beide Fragen strenge und weitreichende Antworten. Zunächst: Das Recht auf eine saubere und gesunde Umwelt ist untrennbar mit der Wahrung der Menschenrechte für heutige und zukünftige Generationen verbunden. Die Umwelt, zu der auch das Klimasystem gehört, ist die Basis menschlichen Lebens und muss geschützt werden. Dies ist völkerrechtlich verpflichtend – Klimaschutz ist somit ein Menschenrecht. Das heißt, auch Länder wie die USA, die aus dem Paris-Abkommen austreten, sind weiterhin zum Klimaschutz verpflichtet. Laut dem Vertrag ist es das Ziel, die globale Erwärmung auf »deutlich unter« zwei Grad Celsius gegenüber der vorindustriellen Zeit zu begrenzen und Anstrengungen für eine Begrenzung auf 1,5 Grad zu unternehmen.

Das IGH-Gutachten stellt auch klar, dass die Begrenzung auf 1,5 Grad völkerrechtlich verpflichtend ist. Staaten müssen ihre Klimaschutzmaßnahmen auf dieses Ziel ausrichten – und dabei höchstmögliche Ambition an den Tag legen. Länder mit hohen historischen Emissionen, zu denen auch Deutschland gehört, haben dabei eine besondere Verantwortung und müssen mehr tun (»take the lead«).

Die Verpflichtungen gelten auch für die Regulierung des Privatsektors. Wenn Länder Lizenzen für die Förderung fossiler Energien erteilen oder Subventionen für fossile Brennstoffe gewähren, kann dies laut dem Gerichtshof eine völkerrechtswidrige Handlung darstellen. Gleichzeitig können Staaten für die Unterlassung von Klimaschutzmaßnahmen zur Rechenschaft gezogen werden. »Das eröffnet die Möglichkeit, dass Staaten für Schäden haftbar gemacht werden können, die durch das Versagen bei der Erfüllung ihrer Klimapflichten entstanden sind«, erläutert Klimaforscher Schleussner. Ob und welche Ansprüche auf Entschädigung zustehen, muss aber von Fall zu Fall konkret geprüft werden.

Als »Meilenstein für ambitionierten Klimaschutz weltweit« wertet die Umwelt- und Entwicklungsorganisation Germanwatch das IGH-Gutachten. Ihr politischer Geschäftsführer Christoph Bals fordert von der Bundesregierung, das Gutachten zum Maßstab ihrer Klimapolitik zu machen: »Es geht um ernsthafte und zügige Emissionsminderung zu Hause, regelmäßige Aufstockung der Finanzierung für Klimaschutz und -anpassung sowie für Verluste und Schäden in den besonders betroffenen Regionen des globalen Südens.« Auch Fridays for Future sehen die deutsche Regierung in der »Pflicht, Emissionen zu senken, fossile Projekte sofort zu beenden und sozial gerechten Klimaschutz als oberste Priorität zu behandeln«.

Allerdings ist das Gutachten nicht rechtsverbindlich, sondern lediglich eine »advisory opinion«, eine beratende Meinung. Dennoch kann es große Wirkung entfalten. Künftig können sich Gerichte in ihren Entscheidungen auf den IGH berufen. Derzeit laufen weltweit über 2000 Klimaverfahren gegen Staaten und Unternehmen. Auch bei den internationalen Verhandlungen zu Klimaschutz, Anpassung und Finanzierung dürfte die Stellungnahme eine wichtige Rolle spielen. »Das Gutachten hat – ähnlich wie ein Urteil – eine Art Orientierung- oder Warnungsfunktion für Staaten«, sagt Giacomo Sebis vom Wuppertal-Institut. »Das sorgt für eine gewisse Verhaltenssteuerung und kann dementsprechend Akteure wie Staaten und Unternehmen dazu bringen, ihr Verhalten anzupassen.«

Auf eine grundlegende Veränderung der Klimadiplomatie hofft die Völkerrechtlerin Margaretha Wewerinke-Singh, die Vanuatu bei dem langwierigen Prozess beraten hat. Sie erklärte bei einem Briefing gegenüber Medienvertretern: »Das Recht scheint die Wissenschaft langsam einzuholen – die Frage ist nun, ob die Politik dem Recht folgt.«

»Das Gutachten ist eine Chance, das Machtverhältnis zu verändern.«

Vishal Prasad Klima-Aktivist

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