Omas Haus im Visier

Der Spitzenverband der Unternehmen fordert radikale Kürzungen bei der Pflegeversicherung. Hilfebedürftige sollen noch mehr selbst zahlen

  • Eva Roth
  • Lesedauer: 8 Min.
Eigenheim beleihen statt Geld von der Pflegeversicherung erhalten – das gefiele den Arbeitgebern
Eigenheim beleihen statt Geld von der Pflegeversicherung erhalten – das gefiele den Arbeitgebern

Wer ins Krankenhaus muss, zahlt die Behandlung nicht selbst, das übernimmt die Krankenversicherung. Wer pflegebedürftig ist, muss dagegen oft erhebliche Kosten selbst tragen, bei stationärer Pflege sind es im Schnitt 3100 Euro im Monat. Denn die Pflegeversicherung finanziert nur einen Teil der nötigen Hilfen. Viele alte Menschen geraten deshalb in finanzielle Not, auch ihre pflegenden Angehörigen sind besonders häufig armutsgefährdet und verzichten wegen der Zuzahlungen oft auf professionelle Unterstützung. Doch aus Sicht des Spitzenverbands der Arbeitgeber ist der soziale Schutz noch viel zu generös: Die Politik soll die Leistungen der sozialen Pflegeversicherung radikal kürzen, fordert die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA). Hilfebedürftige Menschen sollen notfalls auch ihr Haus beleihen oder verkaufen, um ihre Pflege bezahlen zu können. Die schwarz-rote Koalition hat zentrale Forderungen der Arbeitgeber bereits aufgegriffen und erwägt nun, finanzielle Hilfen komplett zu streichen.

Die schwarz-rote Koalition hat vereinbart, dass eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe Vorschläge für eine Pflegereform vorlegen soll. Im Juli hat die AG ihre Arbeit aufgenommen. Dies hat die BDA zum Anlass genommen, um ihre Forderungen in einem zwölfseitigen Papier vorzulegen. Übergreifendes Ziel der Arbeitgeber ist es, die gesamten Sozialversicherungsbeiträge, die Beschäftigte und Unternehmen zahlen, von aktuell knapp 42 Prozent auf unter 40 Prozent des Bruttolohns zu drücken. Auf dieses Niveau sollen sie dann dauerhaft begrenzt werden. Um das zu erreichen, verlangt der Spitzenverband der Unternehmen, in der Pflege die Hilfen für betagte Menschen drastisch zu kürzen. Vier Beispiele:

– Im ersten Jahr der Pflegebedürftigkeit soll die Pflegeversicherung »gestaffelt nach Pflegegraden noch keine Leistungen erbringen«, so die BDA. In dieser »Karenzzeit« sollen die Menschen ihre Pflege also selbst zahlen. Wer das nicht kann, könne eine Privatversicherung abschließen oder eben Sozialhilfe beantragen, so die BDA. Was mit der Staffelung gemeint ist, ob etwa besonders geschwächten Menschen die Hilfen weniger als ein Jahr verwehrt werden sollen, beantwortet die BDA auf Nachfrage nicht.

– Wer pflegebedürftig ist und zu Hause lebt, hat bislang Anspruch auf einen »Entlastungsbetrag« von 131 Euro im Monat. Bezahlt werden kann damit beispielsweise Hilfe im Haushalt, um Angehörige zu entlasten. Die BDA fordert, diesen Betrag zu streichen.

– Hilfebedürftige, die in einem Pflegeheim leben, müssen derzeit im Durchschnitt rund 3100 Euro pro Monat aus eigener Tasche bezahlen, darin enthalten sind rund 1580 Euro für die Pflege. Künftig sollen sie nach dem Willen der BDA noch höhere Kosten übernehmen: Der »Leistungszuschlag« der Pflegeversicherung soll auf Personen »konzentriert« werden, die seit mehr als zwei Jahren im Heim leben. Ob dieser Zuschuss in den ersten beiden Jahren ganz wegfallen oder gekürzt soll, sagt die BDA auf Nachfrage ebenfalls nicht. Derzeit beträgt der Zuschuss im zweiten Jahr im Schnitt 528 Euro im Monat.

– Ein »Nachhaltigkeitsfaktor« soll die Versicherungsleistungen begrenzen, wenn die Zahl der Pflegebedürftigen stärker steigt als die Zahl der Beitragszahlenden – was der Fall sein wird. Dies würde in jedem Fall zu starken Kürzungen führen, sagt der Gesundheitsökonom Heinz Rothgang von der Universität Bremen »nd.DieWoche«. Der wohl kenntnisreichste Pflege-Sachverständige nennt die BDA-Positionen darum einem »Frontalangriff« auf die Pflegeversicherung.

Schon jetzt sind ein Drittel der Pflegeheimbewohner*innen auf Sozialhilfe angewiesen. Sollte sich die BDA durchsetzen, würde ihre Zahl weiter steigen, betont Rothgang. »Die Pflegeversicherung ist eingeführt worden, um pflegebedingte Verarmung zu vermeiden – der BDA-Vorschlag bewirkt das genaue Gegenteil«, kritisiert er. Durch die Karenzzeit müssten überdies Angehörige noch mehr Pflegeleistungen erbringen, die Überforderung würde wachsen. Letztlich liefen die BDA-Forderungen darauf hinaus, dass sich die Politik bei der Pflege am angelsächsischen Sozialstaatsmodell orientiert, das nur das Existenzminimum der Betroffenen sichert.

Tatsächlich weist das Positionspapier in genau diese Richtung. So schreibt die BDA: Damit die Pflegeversicherung finanziell tragfähig bleibt, könne man erwarten, dass Pflegebedürftige zunächst ihr eigenes Einkommen und Vermögen verwenden, um die Pflege zu bezahlen. Erst nach einiger Zeit soll die Versicherung einspringen. Explizit verlangt wird, dass die betagten Menschen »ggf.« ihre Eigentumswohnung oder das eigene Haus beleihen oder verkaufen, um die Hilfen finanzieren zu können. Schließlich könnten sie sich ein Wohnrecht sichern, so die BDA. Ob das auch der Partnerin gewährt werden soll, wenn der Ehemann ins Heim muss, lässt sie offen.

Es geht auch anders

Die Pflegeversicherung ist für den Alltag vieler Menschen bedeutsam. So waren zuletzt in Deutschland 5,7 Millionen Personen pflegebedürftig. Bereits 2021 gab es laut einer Studie mehr als sieben Millionen pflegende Angehörige. Heute dürften es mehr sein. Zudem arbeiten fast 1,3 Millionen Beschäftigte in ambulanten Diensten und Pflegeheimen.

In der politischen Debatte geht es meist darum, wie die Politik die Ausgaben der Pflegeversicherung begrenzen kann. Die wachsende Zahl betagter Menschen erscheint oft als Bedrohung. In den Hintergrund tritt die aus sozialer und humanitärer Sicht entscheidende Frage: Wie ist eine gute Pflege möglich, die den Belangen der gebrechlichen Menschen, ihrer Angehörigen und den Beschäftigten gerecht wird?

Eine Studie des Gesundheitsökonomen Heinz Rothgang hat sich damit befasst. Er hat berechnet, was nötig wäre, damit die Pflegeversicherung sämtliche Pflegekosten übernehmen kann. Das würde vielen helfen, denn bislang sind sowohl Hilfebedürftige als auch ihre pflegenden Angehörigen besonders oft armutsbetroffen.

Übernimmt die Versicherung alle Kosten, steigen logischerweise die Ausgaben. Um diese zu finanzieren, schlägt Rothgang Folgendes vor: Die Politik führt eine Bürgerversicherung ein, in die alle einzahlen, auch Selbstständige und Besserverdienende. Zudem werden alle Einkommensarten einbezogen, auch Kapitaleinkünfte. Drittens wird die Beitragsbemessungsgrenze erhöht, bis zu der Beiträge zu zahlen sind, und zwar auf das Niveau der Rentenversicherung. Hier liegt die Grenze derzeit bei 8050 Euro im Monat.

Würde die Politik eine solche Bürgerversicherung einführen, könnte sie sämtliche Pflegekosten im Heim übernehmen und zusätzlich mehr Leistungen für ambulante Dienste finanzieren. Die Beiträge bis zu einem Bruttomonatsgehalt von 5000 Euro würden dadurch im ersten Jahr um maximal fünf Euro steigen. Wer einen Bruttolohn von 2500 Euro hat, müsste beispielsweise zwei Euro mehr zahlen. Wer hingegen 7000 Euro verdient, würde 76 Euro mehr abführen.

Im Gegenzug wären betagte Menschen besser vor Verarmung geschützt, Pflegebedürftige müssten bei Heimeintritt im Schnitt rund 1580 Euro pro Monat weniger zahlen und pflegende Angehörige könnten besser entlastet werden. rt

Und welche finanziellen Mittel sollen Pflegebedürftigen und ihren Partner*innen verbleiben? Eine indirekte Antwort darauf gibt ein Gutachten des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), auf das die BDA verweist. Darin wird abgeschätzt, wie viele Rentnerhaushalte die aktuellen Pflegekosten aus eigenem Einkommen und Vermögen bezahlen könnten, wenn ein Haushaltsmitglied in ein Pflegeheim kommt. Entscheidend sind die Annahmen: Die Studie geht in ihrem Szenario davon aus, dass die zu Hause lebende Person ein Einkommen knapp oberhalb der Sozialhilfe behalten darf. Den Heimbewohner*innen wird ein »Taschengeld« zugestanden. Alles andere soll für die Pflege zur Verfügung stehen. Zudem wird ein »Schonvermögen« von 10 000 Euro pro Person zugrunde gelegt, auch das orientiert sich an Sozialhilferegeln. Alle weiteren Vermögen sind in dem Modell ebenfalls für die Pflegekosten verfügbar. Die Autoren unterstellen dabei, dass auch das Eigenheim oder die Wohnung notfalls verkauft wird.

Das IW geht also in seinem Modell davon aus, dass dem Partner oder der Partnerin eines pflegebedürftigen Menschen nur so viel bleiben soll, dass er oder sie knapp über dem Sozialhilfeniveau liegt. Unter dieser Maßgabe hätten dem Gutachten zufolge im Jahr 2023 rund 71 Prozent aller Rentnerhaushalte die Kosten für die stationäre Pflege eines Haushaltsmitglieds für zwei Jahre bezahlen können. Dabei wurden die Beträge zugrunde gelegt, die Pflegebedürftige damals tatsächlich selbst bezahlen mussten. Die BDA nimmt dieses Ergebnis dann als Argument dafür, dass die Menschen noch mehr Kosten selbst tragen können.

Die BDA beruft sich also auf eine Modellrechnung, in der Pflegebedürftige und ihre Partner*innen zahlen sollen, bis sie verarmt sind und nur noch knapp über dem Existenzminimum liegen. Knapp darüber, weil laut Gutachten vermieden werden soll, dass die Menschen Sozialhilfe beanspruchen. Denn das würde den Staat wieder Geld kosten.

Kritik an »Schonung« von Einkommen

Bei alldem bemüht sich die BDA, Sozialschutz für betagte Menschen als unbotmäßig darzustellen. So kritisiert sie, dass der Leistungszuschlag der Pflegeversicherung für Heimbewohner*innen derzeit »überwiegend der Schonung des Einkommens und Vermögens der Betroffenen und damit des Erbes dient«. Diese Aussage ist in zweierlei Hinsicht bemerkenswert:

Erstens sprechen hier die Arbeitgeber, die ansonsten für eine Schonung – hoher – Einkommen und Vermögen eintreten: Sie sind gegen eine Vermögenssteuer, gegen eine höhere Besteuerung großer Erbschaften, für eine Abschaffung des Soli für Besserverdienende und für niedrigere Unternehmenssteuern. Große Einkünfte und Vermögen sollen geschützt werden, Omas Häuschen und Opas Rente nicht.

Experte spricht von »Frontalangriff« auf Pflegeversicherung.

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Zweitens greifen die Arbeitgeber damit ein Prinzip des deutschen Sozialstaats an: Er soll gerade kleine und mittlere Einkommen gegen soziale Risiken abzusichern, sie also zu »schonen«. Deutschland gelte als Prototyp eines »konservativen Wohlfahrtsstaats«, erläutert der Forscher Rothgang: Der Sozialstaat ziele auf eine Sicherung des Lebensstandards. Die gesellschaftliche Position, die Beschäftigte einmal erreicht haben, soll gegen Wechselfälle des Lebens abgesichert werden. Diese Idee haben Regierungen bereits in vielerlei Hinsicht abgeschwächt, sie spiegelt sich jedoch weiterhin in Sozialleistungen wider: Die Rente und das Arbeitslosengeld bemessen sich an der individuellen Lohnhöhe, die Krankenversicherung zahlt kostspielige Behandlungen und auch das Krankengeld ist lohnabhängig. Die Pflegeversicherung fällt schon heute etwas aus dem Rahmen, weil sie nur einen begrenzten Schutz gewährt. Doch selbst das ist der BDA zu viel.

»Ohne Not strikte Vorgaben gemacht«

Auch die schwarz-rote Koalition will »die seit Jahren steigende Ausgabendynamik« in der Pflegeversicherung stoppen, obwohl die Zahl der Hilfebedürftigen wächst. Das macht Leistungskürzungen wahrscheinlich. Die Bund-Länder-Arbeitsgruppe soll denn auch generell »Nachhaltigkeitsfaktoren« prüfen. Als ein Beispiel wird die ebenfalls von der BDA verlangte Karenzzeit genannt. Sollte die schwarz-rote Koalition diese tatsächlich beschließen, wäre es wohl das erste Mal seit Einführung der Pflegeversicherung vor 30 Jahren, dass Hilfen komplett gestrichen werden.

Schon jetzt hält die Koalition den Spardruck hoch. So hat die Regierung der Pflegeversicherung für dieses Jahr gerade einmal 0,5 Milliarden Euro gewährt – allerdings in Form eines Darlehens, das zurückgezahlt werden muss. Dabei ist unstrittig, dass der Bund der Pflegeversicherung noch Kosten erstatten muss, die während der Pandemie entstanden sind und nichts mit Pflege zu tun haben, betont Rothgang. Der GKV-Spitzenverband, der auch die Pflegekassen vertritt, beziffert den Betrag, den der Bund noch zahlen muss, auf 5,2 Milliarden Euro. Das ist für die Pflegeversicherung viel Geld: Insgesamt hat sie im vorigen Jahr 64 Milliarden Euro eingenommen. Der GKV-Spitzenverband fordert überdies, dass der Bund dauerhaft die Rentenversicherungsbeiträge für pflegende Angehörige zahlt, die sich zuletzt auf 4,5 Milliarden Euro pro Jahr summiert haben.

»Mit der Auflösung der Schuldenbremse hat sich die Regierung massiv Luft verschafft«, sagt der Volkswirt Rothgang. »Trotzdem hat das Finanzministerium der Pflegeversicherung ohne Not strikte Vorgaben gemacht – gerade hier, wo es brennt. Das hatte ich nicht erwartet.«

Für Rothgang sind die derzeitigen Leistungen der Pflegeversicherung eindeutig unzureichend. Die hohen Eigenbeträge bei stationärer Pflege sind dafür nur ein Beispiel. Wie es möglich wäre, dass die Pflegeversicherung sämtliche Kosten übernimmt und so den Menschen mehr Schutz bietet, hat er kürzlich in einer Studie berechnet (siehe Infobox). Sie zeigt: Es gibt Alternativen zu Kürzungen zulasten alter Menschen, die sich kaum wehren können.

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