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Der Kick mit der Krücke
Wie die Amputierten-Fußballer des FSV Mainz 05 mit Teamgeist und Lebensmut eine Liga der besonderen Art erobern und inspirieren
Christian Heintz beherrscht die hohe Kunst. Die Krücke fallen lassen, sich in eine Flanke zu werfen – und ein Kopfballtor zu erzielen. So was können beim Amputierten-Fußball nur ganz wenige. Sein komplexer Gleichklang ist die beste Antwort auf die immer wieder gestellte Frage: »Fußball mit einem Bein: Wie soll das gehen?« Der 41-Jährige ist nicht nur der beste Spieler beim FSV Mainz 05, sondern auch der umtriebige Tausendsassa: Als Geschäftsführer vom gemeinnützigen Dachverband Deutscher Amputierten-Fußball organisiert er gleich auch den Spielbetrieb.
»Vor fünf Jahren waren wir bundesweit nur 15 Spieler, jetzt sind es schon 80. Aber natürlich ist das noch zu wenig«, erzählt Heintz. Ansonsten unterhalten nur noch Fortuna Düsseldorf, der Hamburger SV, BFC Preussen Berlin und Anpfiff Hoffenheim ein Team. Der Fußball-Bundesligist Mainz 05 nahm die Sparte 2023 auf, um seiner gesellschaftlichen Verantwortung noch besser gerecht zu werden. »Die Motivation ist bei uns noch mal höher als bei normalen Zweibeinern. Wir grätschen nicht, aber wir spielen genauso rasanten Fußball«, versichert Heintz. Neben Gefühl im Fuß braucht es Kraft in den Armen und Schultern, um sich auf den Gehhilfen schnell zu bewegen. Geschickte Kämpfernaturen sind gefragt. Und eine Portion Pragmatismus gepaart mit Lebensmut.
Der tägliche Strom an Nachrichten über Krieg, Armut und Klimakrise bildet selten ab, dass es bereits Lösungsansätze und -ideen, Alternativprojekte und Best-Practice-Beispiele gibt. Wir wollen das ändern. In unserer konstruktiven Rubrik »Es geht auch anders« blicken wir auf Alternativen zum Bestehenden. Denn manche davon gibt es schon, in Dörfern, Hinterhöfen oder anderen Ländern, andere stehen bislang erst auf dem Papier. Aber sie zeigen, dass es auch anders geht.
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Rückkehr nach zehnprozentiger Überlebenschance
Heintz arbeitete als Maler und Lackierer in der Eifel, spielte Fußball bei der SG Alfbachtal in der Verbandsliga Südwest Rheinland, als er 2010 mit seinem Auto in einer Winternacht aus einer Kurve rutschte. Der Wagen prallte gegen einen Baum – er war nicht angeschnallt. Die Ärzte gaben ihm im Koma im Krankenhaus nur eine zehnprozentige Überlebenschance. Das rechte Bein war zerquetscht. Er überlebte – und traf die Entscheidung, dass sein kaputtes Bein nicht mit einer Stahlkonstruktion versteift, sondern amputiert werden sollte, weil ein künstliches Bein mit der Prothese beweglicher ist. »Deshalb habe ich den Ärzten gesagt: Einmal abmachen, bitte.« Klang makaber, war aber im Rückblick richtig.
Die meisten seiner heutigen Mitspieler haben nach Krebserkrankungen, Unfällen oder durch angeborene Dysmelien Fuß oder Bein verloren. Deshalb nennt sich Stefan Schmidt hier den »Exot«: Er stieß 2017 so unglücklich bei einem Kreisligaspiel mit dem Torwart zusammen, dass Schien- und Wadenbein im rechten Winkel brachen. Die Ärzte merkten zu spät, dass der Unterschenkel nicht richtig durchblutet war. Der Fall erregte bundesweites Aufsehen.
Jedes Jahr trifft es in Deutschland rund 60 000 Menschen, denen aus medizinischen Gründen eine Gliedmaße abgenommen werden muss. Zehen und Finger, aber auch Unter- und Oberschenkel. In vielen Sanitätshäusern und Orthopädiepraxen liegen Flyer, die auf Sportangebote für Amputierte aufmerksam machen – aber oft haben die Betroffenen das anfangs nicht im Kopf. Heintz versucht diejenigen früh ausfindig zu machen, die vielleicht mitkicken könnten. Die persönliche Tragik eines jeden einzelnen würde nämlich erst einmal nicht interessieren: »Erst beim dritten, vierten Mal fragt man: ›Was ist eigentlich Dir passiert?‹«
Anspielen gegen das Trauma
Er überzeugte auch Schmidt quasi am Krankenbett. »Ich erinnere mich noch genau, wie Christian mit mir gequatscht hat, ich solle wieder Fußball spiele«, erzählt der 31-Jährige, der zu diesem Zeitpunkt nur an Leichtathletik mit Prothese gedacht habe. Heute sagt er stolz, er sei »vom Fußballplatz auf den Fußballplatz« gewechselt. Und er beteuert: »Ich vermisse nichts mehr.« Für ihn gilt dasselbe wie für seine Mitspielerin Nicola Roos: »Der Fußball hat mir geholfen, meine eigene Geschichte zu verarbeiten.« Sporttreiben als Traumatherapie.
Roos dient als Paradebeispiel für Inklusion. Die 18-Jährige ist tatsächlich die einzige Amputierten-Fußballerin in Deutschland: Sie war 14, als sie wegen eines Krebstumors im Knie ihr Bein verlor. Schon als Kind hatte sie beim TSV Reichenbach mit lauter Jungs Fußball gespielt. Trainer Jürgen Menger nennt die 18-Jährige heute seine »First Lady«. Denn: »Sie zeigt, dass es auch als Frau funktioniert.« Der Ex-Profi Menger ärgert sich immens darüber, dass der Deutsche Fußball-Bund (DFB) die »Ampu-Kicker«, wie sie selbst nennen, nicht aufnimmt. »Ich würde mir wünschen, dass der DFB auch die Sportler fördert, die einen schweren Schicksalsschlag hinter sich haben.«
Alles hängt an der Anerkennung des Amputierten-Fußballs als paralympische Sportart, die aber durch das Internationale Paralympischen Komitee erst für die Spiele 2032 in Brisbane in Aussicht steht. Menger kritisiert offen: »Das dauert mir zu lange.« Zu seiner heutigen Aufgabe kam der 64-Jährige, weil sein Sohn Robin vor vier Jahren beim Überqueren der Gleise am Mainzer Bahnhof den linken Unterschenkel verlor. »Das war eine Tragödie, die ganze Familie stand lange unter Schock.« Ihm imponierte sofort die Schicksalsgemeinschaft, die trotz Beeinträchtigung mit beiden Beinen im Leben steht.
Das Regelwerk für Feldspieler sieht vor, dass ohne Bein- oder Armprothese sowie einbeinig auf Krücken gespielt werden muss. Bei Torhütern muss eine Armamputation oder eine Armverkürzung vorliegen. Die Spielzeit beträgt pro Spiel zweimal 20 Minuten. Wird der Ball mit der Krücke berührt, zählt das wie ein Handspiel. Es wird ohne Abseits auf einem Kleinfeld auf Feldhockey-Tore gespielt. Prothesen sind nicht erlaubt.
Menger hat früher selbst im Stadion am Bruchweg gespielt, als Mainz 05 noch ein biederer Zweitligist war. Der Klub hat nun genau dort am vergangenen Wochenende die ersten beiden Spieltage der Amputierten-Bundesliga ausgerichtet. 300 Zuschauer sahen sich die durchaus rasanten Partien an – immer wieder brandete Beifall auf. »Es war alles top organisiert – vom Ordnerdienst bis zum Stadionsprecher«, freute sich Ko-Trainer Jörg Schmidtke. Er hat hinter den Kulissen einen Kontakt geknüpft, um Ex-Nationalspieler Philipp Lahm als Botschafter zu gewinnen.
Mainz in der Champions League
Direkt nach dem Bundesliga-Start ging es für die Mainzer in der Champions League weiter. Gegen Real Betis aus Spanien, AFC Tbilisi aus Georgien und Alves Kablo FK aus der Türkei. Bei internationalen Vergleichen wird auf einem viel größeren Feld im Sieben-gegen-Sieben gespielt – nicht im Fünf-gegen-Fünf. Ausgetragen wurde das Turnier mit acht Teams in Ankara. Die Türkei verpasste Deutschlands Nationalmannschaft bei der EM 2024 im Viertelfinale eine Lehrstunde – die Mainzer hatten den größten Block gestellt, sich aber später als Neunter immerhin für die WM in Costa Rica im Herbst 2026 qualifiziert. Derzeit ist noch unklar, wie der teure Trip finanziert werden kann.
Am Bosporus gibt es eine staatliche Förderung und Live-Übertragungen im Fernsehen für den Amputierten-Fußball. Vor einigen Jahren kamen zum EM-Finale zwischen der Türkei und England 40 000 Zuschauer. Sie sehen dann auch, wie die Krücke genutzt wird, um Zeichen für ein Anspiel zu geben. Aber am besten ist es, wenn die Metallstangen klackern. Denn damit werden Tore bejubelt. Wie jenes von Christian Heinz, mit dem er im Oktober letzten Jahres Mainz 05 im Endspiel gegen den HSV zum Meistertitel schoss.
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