Ohne Kurschatten im Solebecken

Die nd-Kolumnistin ist auf Reha und erkundet Bad Soden-Salmünster und natürlich das dortige Bad

Über Wasser – Ohne Kurschatten im Solebecken

»Du versuchst das schon eine ganze Weile, oder?« Der blonde Junge schaut versonnen in die Mitte des Beckens, wo gerade ein Pilzwasserfall zu strömen beginnt. Zwei etwa zwölfjährige Jungs sitzen auf den breiten Stufen vor dem Panoramafenster, der Dunkelhaarige blickt auf seine Füße. »Über ein Jahr«, murmelt er dann. Eine gehbehinderte Dame tastet sich an Haltegriffen zwischen ihnen hindurch die Stufen hinab. Der Blonde sagt halblaut: »Du musst jetzt auf ihn zugehen. Wenn du sein Freund sein willst, musst du Kompromisse machen. Man kann nicht immer nur kritisieren und erwarten, dass der andere genauso ist, wie man ihn haben möchte.«

Ich stoße mich von meiner Rücken-Düse neben den Treppen ab, schwimme durch das Becken und wende mich an den Blubberliegeflächen um. Jetzt pflügt der dunkelhaarige Junge seine Hände durchs Wasser, während der Blonde weiter ruhig mit ihm spricht. 

Seit Mitte Mai befinde ich mich im Spessart, am Hang bewaldeter Berge. Zwei Tage lässt die Deutsche Bahn meine Koffer hinterher irren, dann verfüge ich über Turnschuhe und Badeanzug. Auch wenn der nahe Park um die Spessart-Therme noch Kurpark heißt, wird mein Aufenthalt nicht mehr Kur genannt. Reha klingt ebenso freudlos wie Reha-Schatten. Im Gesundheitswesen wird gespart – wenn es Leistungen gibt, werden Gegenleistungen erwartet. Von 7.30 Uhr bis nach 18 Uhr turne, springe und laufe ich. Drücke Gewichte oder ziehe welche, jogge und dehne mich. Erhalte Vorträge, Massagen, Strom und täglich drei Mahlzeiten. Um zehn Uhr abends wird es still im Haus, manche schnarchen bereits bei der nachmittäglichen Muskelentspannung. Beim Abendbrot fiebere ich dem Schwimmen im hauseigenen Pool entgegen. Himmelblick durchs Oberlicht. Nach etlichen Bahnen dünste ich im Rheumabad. Fehlt nur noch eine Reha-Kumpeline.

Bad Soden-Salmünster war meine dritte Wahl nach Ost- oder Nordsee. In der hessischen Doppelstadt leben Grünspecht, Rotmilan und einige Falken, die Freiluft-Gottesdienste wie Motorradkonvois stoisch ertragen. Eisenbahnen dröhnen durchs Tal, die Einflugschneise nach Frankfurt beginnt hinter dem nächsten Berg. Ein Wildpark lockt Rehabilitanden in den Wald, die meisten zieht es jedoch zu den Eiscafés, dem Griechen oder dem Italiener am Fluss. Früher gab es 28 Tanzlokale für die kurenden Bergarbeiter, heute schließen Kliniken, die Therme bangt um ihre Existenz.

Beim Spazierengehen streife ich verlassene Gebäude, da wächst ein Baum auf dem Dach, dort fliegen Mauersegler ein und aus. Der Ausblick aus den entglasten Fenstern eines Hotels ist fantastisch. Ich wähle gerade einen schweren Messing-Zimmerschlüssel aus, als ich Schritte im oberen Stockwerk höre. Ich halte die Luft an. Ein Kopf biegt um den Treppenlauf. Eine Essensnachbarin meiner Klinik! Wir müssen beide lachen.

Als wir später im Solebecken der Therme auf dem sehr salzigen, rotbraunen Wasser wie auf dem Toten Meer treiben, kann ich ein Stück des Außenschwimmbeckens sehen, in dem gerade das stündliche Wellenbad angestellt wurde. Ein dunkler, ein blonder und ein rothaariger Junge hüpfen ins Bild.

Über Wasser

Anne Hahn ist Autorin von Romanen und Sachbüchern und schwimmt für »nd« durch die Gewässer der Welt.

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