Vergessener »Würgeengel« der Kinder

Die Diphtherie versetzte über Jahrhunderte Familien in Angst und Schrecken – dann kamen ein Antitoxin und Impfstoffe

Der Bakteriologe Emil von Behring, der 1901 für seine Arbeit über das Diphtherie-Antitoxin den ersten Medizinnobelpreis erhielt
Der Bakteriologe Emil von Behring, der 1901 für seine Arbeit über das Diphtherie-Antitoxin den ersten Medizinnobelpreis erhielt

El año del garrotillo» bezeichnete der Medizinprofessor und Augustiner Juan de Soto das Jahr 1613. Es muss sich durch besonders viele «Würgungen» ausgezeichnet haben, denn Ausbrüche dieser Krankheit, die später die Bezeichnung Diphtherie bekommen sollte, sind seit der Antike beschrieben. Der Arzt aus dem südspanischen Granada war indes nicht nur Chronist, sondern machte sich seinerzeit auch auch um neue Erkenntnisse verdient: «Das vitale Vermögen des Herzens ist geschwächt», schrieb de Soto.

Erreger ist das Corynebacterium diphtheriae, das in der respiratorischen Form durch Aerosole übertragen wird, bei Hautinfektionen über Läsionen. Die Infektion führt zunächst zu grippeähnlichen Symptomen. Der Bazillus bildet ein Toxin, das Zellen befällt und abtötet. Dadurch entstehen nach zwei bis drei Tagen im Rachenraum die typischen gelblichen, lederartigen Wülste, von denen sich der griechische Name ableitet. Patienten bekommen Atemnot und fühlen sich wie stranguliert, weshalb früher viele erstickten. Selbst Luftröhrenschnitte halfen nur kurzzeitig: Gelangt das Gift in den Blutkreislauf, können Herz und Nieren befallen werden. Die Diphtherie verlief dann meist tödlich in vulnerablen Gruppen, insbesondere den Kleinsten. Im Volksmund war vom «Würgeengel der Kinder» die Rede.

Wie verheerend die Ausbrüche sein konnten, zeigt ein Beispiel aus New England, als sich in den 1730ern und 1740ern «die schlimmste Epidemie einer Kinderkrankheit in der US-Geschichte» ereignete, wie der Wissenschaftsjournalist Richard Conniff in «National Geographic» berichtet. In einer einzigen Straße in Newburyport, Massachusetts, die nicht mal einen Kilometer lang war, starben 1735 im Laufe von drei Monaten 81 Kinder. Der Ort Haverhill im selben Bundesstaat büßte die Hälfte seiner Kinder ein.

Auch in Europa gab es alle paar Jahre Wellen von großen Ausbrüchen. Ende des 19. Jahrhunderts war die Diphtherie in Preußen die häufigste Todesursache bei den Drei- bis Fünfjährigen. Der Erreger infizierte häufig ganze Haushalte. Noch Anfang des 20. Jahrhunderts starben hierzulande jährlich Zehntausende Kinder daran.

Kein Wunder, dass frühzeitig an Gegenmitteln geforscht wurde – mit Erfolg: 1890, also lange voir der Entwicklung von Antibiotika, stellten Emil von Behring und Shibasaburo Kitasato aus dem Blut infizierter Tiere ein Antitoxin her, das bereits fünf Jahre später beim Menschen angewendet werden konnte. Experten sprechen von der «Geburtsstunde der modernen Immunologie». Wurden die Antikörper ursprünglich aus Meerschweinchen, Kaninchen oder auch einem schwarzen Pudel gewonnen, ging man wegen der benötigten Menge schnell zu Pferden über. Um die Nachfrage zu decken, wurden die Behringwerke gegründet.

Durch die Gabe der Antikörper konnte die Sterblichkeit in etwa halbiert werden, aber die Fallzahlen blieben hoch. Das änderte sich erst mit der Entwicklung von Impfstoffen ab den 1920er Jahren. Als sie ab 1960 in der DDR und später auch der Bundesrepublik flächendeckend zum Einsatz kamen, fiel die Zahl der Todesfälle rasch in den niedrigeren dreistelligen Bereich. Zuletzt wurde überhaupt nur noch ein Handvoll Infektionen registriert. Bundesbürger kennen sie nur noch von der Dreifachimpfung, die auch Tetanus und Keuchhusten umfasst.

Da sie auch weltweit selten geworden ist, gibt es kaum Interesse an der Entwicklung neuer Medikamente. Dabei sind bei dem Antitoxin allergische Reaktionen nicht gerade selten. Als die TU Braunschweig vor einigen Jahren ein Projekt zur Entwicklung eines biotechnologisch erzeugten Human-Antikörpers starten wollte, konnte sie keine Förderung akquirieren. Letztlich sprang die internationale Tierschutzorganisation Peta ein, die durch Berichte über schlimme Haltungsbedingungen von Pferden auf den Plan gerufen worden war. Die Tests im Labor verliefen vielversprechend – doch es gibt keinen Interessenten für die Finanzierung der notwendigen klinischen Tests und eine Herstellung im großen Maßstab. Und so wird absehbar weiterbehandelt mit einem Antitoxin von anno dunnemals.

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