Marktrückzug statt Verantwortung

Pharmabranche mobilisiert gegen Kostenübernahme bei der Reinigung kommunaler Abwässer

Für Kläranlagen gibt es immer größere Herausforderungen, etwa durch Pharma-Rückstände.
Für Kläranlagen gibt es immer größere Herausforderungen, etwa durch Pharma-Rückstände.

Pharmahersteller und -verbände gehen auf die Barrikaden: Die neue EU-Abwasserrichtlinie zur Behandlung von kommunalem Abwasser von November 2024 schreibt eine vierte Reinigungsstufe in Klärwerken vor. So sollen auch kleinste Stoffmengen aus dem Wasser gefiltert werden. Medikamente und ihre Rückstände gehören dabei zu den problematischen Materialien. Sie gelangen einerseits durch falsche Entsorgung, andererseits in großen Mengen durch eigentlich sachgerechte Anwendung in die Abwässer – nämlich über menschliche Ausscheidungen. Verunreinigungen aus Herstellungsprozessen sind in Europa hingegen selten.

Weil der Streit um die Umsetzung der Richtlinie noch läuft, hat die Pharmabranche in den vergangenen Tagen öffentlich Szenarien zu möglichen Marktrücknahmen ins Spiel gebracht – denn ihre Kosten würden am Ende zu hoch. Die EU verlangt eine »erweiterte Herstellerverantwortung« – Produzenten etwa von Arzneimitteln sollen die Kosten für das Herausfiltern übernehmen. Hersteller von Arzneimitteln und Kosmetika sollen für 80 Prozent aufkommen. Die Branchenorganisation Pharma Deutschland läuft dagegen Sturm und spricht von Fehlern in Folgenabschätzung und Datengrundlagen Brüssels. Laut dem Verband Pro Generika kommen Verunreinigungen auch aus anderen Bereichen, etwa aus dem Verkehr oder von Pflanzenschutz- und Reinigungsmitteln. Die Umsetzungsfristen für die Richtlinie, die zu Jahresbeginn in Kraft getreten ist, liegen allerdings zwischen zehn und 20 Jahren. So lange können sich die Staaten dafür Zeit lassen, was den aktuellen Alarmismus der Hersteller fragwürdig macht.

Pro Generika argumentiert weiter, steigende Kosten durch Abwasserbehandlung könnten nicht auf den Verkaufspreis aufgeschlagen werden. Der Grund seien die Preisdeckel, an die Hersteller durch Verträge unter anderem mit den Krankenkassen gebunden seien. Diese gesetzlich gesicherten Einschränkungen von Gewinnmöglichkeiten sind der Branche ohnehin ein Dorn im Auge. Insofern bietet sich hier eine gute Möglichkeit, auch diese Regulierung anzugreifen.

Umsetzungsfristen zwischen zehn und 20 Jahren lassen den Alarmismus der Hersteller fragwürdig erscheinen.

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Ein schönes Beispiel für die Gemengelage in diesem Feld ist das bewährte Diabetes-Medikament Metformin. Zentiva und Sandoz sind hier die führenden Hersteller. Der Konzern Zentiva, der in Indien insgesamt fünf Millionen Packungen pro Jahr produziert, deckt in Deutschland allein fast 40 Prozent des Bedarfs. Was würde ohne Metformin aus der Diabetes-Therapie? Auf das Medikament angewiesen sind in Deutschland 2,9 Millionen Patienten. Die Alternativen, darunter das zu spritzende Insulin, haben mehr Nebenwirkungen und sind teurer. Zudem sprechen auch ärztliche Leitlinien dafür, Typ-2-Diabetes am besten mit Metformin zu behandeln. Die Kosten sind mit 20 Cent pro Tagesdosis niedrig, weil das Patent bereits ausgelaufen ist.

Metformin findet sich schon länger im Abwasser. In Kläranlagen wird das Antidiabetikum von Bakterien zu Guanylharnstoff abgebaut. Beide Substanzen wurden schon in Oberflächengewässern sowie in geringen Konzentrationen im Trinkwasser nachgewiesen. Bei Fischen und Säugetieren in der Natur wird in der Folge die Glukoseproduktion gehemmt, ebenso nachgewiesen sind hormonelle Wirkungen. So kam es zu verstärkter Entwicklung von Intersexualität von Männchen bestimmter Fischarten, die man über ein Jahr lang umweltähnlichen Konzentrationen von Metformin aussetzte. Die Körpergröße der Fische nahm ab, wie sich auch ihre Fruchtbarkeit verringerte.

Das mag nun nicht relevant erscheinen. Einerseits konzentrieren sich Studien auf isolierte Organismen oder betrachten einzelne Fressbeziehungen. Andererseits bestehen zum Beispiel Nahrungsketten nicht linear entlang einzelner Tier- und Pflanzenarten, auch wenn diese sich einfacher untersuchen lassen. Wissenschaftler gehen davon aus, dass die Mischung vieler Arzneistoffe und ihrer verstoffwechselten »Ableger« auch in sehr geringen Konzentrationen am Ende stärkere oder ganz neue Wirkungen hervorrufen.

Die Industrie hat indessen angekündigt, noch weitere Wirkstoffe verteuern zu wollen, darunter Amoxicillin, das am häufigsten verordnete Antibiotikum in Deutschland, und Tamoxifen, das in der Nachsorge von Brustkrebs häufig angewendet wird.

Wohl auch angesichts dieser Drohkulisse entschied die EU-Kommission inzwischen, die für die Hersteller entstehenden Kosten und die Auswirkungen auf die Sektoren Pharma und Kosmetik noch einmal zu überprüfen. Ob in der Folge die Abwasserrichtlinie verändert wird, bleibt abzuwarten.

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