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»Kannibalen und Liebe«: Wo Ohrenhaare zitternd tanzen
Ultra-fetzige Horror-Stories von Fil
Man kennt den Mann vor allem von Deutschlands Kleinkunstbühnen: »Mit der Gitarre in der Hand / Reist er durch das ganze Land.« Als Comiczeichner, Komiker, Songwriter und Sänger hat Fil, mit bürgerlichem Namen Philip Tägert, bisher mindestens drei Karrieren absolviert. Und nicht alle wissen, dass der bekennende Westberliner längst auch eine vierte gemacht hat: Er ist außerdem Schriftsteller.
Sein soeben erschienener neuer Band mit Erzählungen (»ultra-fetzige Horror-Stories«) heißt »Kannibalen und Liebe«, und der Titel hält, was er verspricht, kann man wohl sagen. Nur handelt es sich selbstverständlich nicht um »Horror-Stories«, sondern um Persiflagen auf Horror-Stories, wobei die Persiflagen zugleich als Hommage ans Genre verstanden werden müssen. »Ich rutschte an ihm runter, biss ihm den Schwanz ab, was ihn in der Mitte einknicken ließ, und als er dann am Boden lag, brach ich ihm den Schädel und aß sein Gesicht.« Stellen wie diese gibt es manche, und wer daran sein Vergnügen hat, wird bedient. Und zwar nicht nur mit Splatter-, sondern auch mit anschaulichen Gore-Szenen: »Sein kalkweißes Fleisch war mit eiternden Geschwüren und Pusteln übersät und breitete sich nun, da keine Kleidung es mehr einengte, derart aus, dass ich unwillkürlich an das Märchen vom süßen Brei denken musste.«
Einen Mangel an Psychopathen oder, sagen wir besser: bedenklichen Charakteren gibt es in diesen Erzählungen nicht, und auch sonst ist alles vorhanden, was man braucht, wenn es hin und wieder zur Eskalation kommen soll: So gibt es hier etwa eine schwäbische Kannibalenfamilie, Hexen, Wolfsfrauen, verrückte Wissenschaftler (»mad scientists«), Schwerkriminelle, Vampire, Zombies, Nazis und Nazi-Zombies. Und auch darüber hinaus werden allerlei unsympathische Figuren (empathielos, selbstsüchtig, verblödet) aufgefahren.
Die Stories warten hie und da mit haarsträubenden Wendungen und Twists auf, die »bizarr« zu nennen die Untertreibung des Jahrhunderts wäre. Fil plündert hier für seine Zwecke so einiges: Hitchcocks »Psycho«, Motive und Handlungsgerüste der Knastfilme der 70er Jahre, die B-Pictures der »Hammer«-Studios (»Blut für Dracula«), Lucio Fulcis Giallos und Exploitation-Kunstwerke (»Ein Zombie hing am Glockenseil«).
Einen Mangel an Psychopathen oder, sagen wir besser: bedenklichen Charakteren gibt es in diesen Erzählungen nicht.
Und weil er bewusst Anleihen aus der Trash- und Trivialliteratur nimmt und sein Schreiben ganz offensichtlich als Parodie auf sogenannte Schundromane und Groschenheftliteratur angelegt ist (»Ich will Sie in mir spüren. Ich will dieses dünne kurze Rohr. Jetzt und hier«), bleiben die unvermeidlichen sprachlichen Standardformulierungen nicht aus: Jemand hat »puddingweiche Beine«, wird »kreidebleich« oder steht »zähneklappernd« und »von Angstschweiß durchnässt« da. »Nackenhaare richten sich auf« und »krause Ohrenhaare tanzen zitternd«.
Diese abgegriffene Sprache, auch wenn sie gelegentlich in parodistischer Absicht, verwendet wird (»ihre Stimme war klar und frisch wie das Murmeln eines Gebirgsbachs im Morgennebel«), nervt ein bisschen, aber was soll man machen, Fils saftige Quatschprosa liest sich immer noch zirka tausend mal origineller und lustiger als das wie von einer schlecht programmierten KI zusammengestümperte Sebastian-Fitzek-Zeug. »Was gab es noch für sie zu tun? Sie furzte trocken in den Nachmittag hinein. Es war, wie es war.«
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Immer dann, wenn Fil sich zwischenzeitlich darauf besinnt, dass er ein Komiktalent der Gegenwart ist, kommen die Fil-Sätze: »Als Brünette und ich, von oben bis unten mit Blut besudelt, keuchend über der riesigen Masse aus Knochensplittern, Hirn und Fett standen, dämmerte mir, dass gerade wohl für uns beide ein Lebensabschnitt zu Ende gegangen war. So was kann einen in ein tiefes Loch stürzen, wenn man nicht sofort ein neues Kapitel aufschlägt.«
Auch Gedanken über zahlreiche andere Gegenstände finden Platz im Buch, zum Beispiel solche über das Christentum: »Jesus sagt eigentlich nur: Ich bin gut, ihr seid schlecht, aber ich verzeihe euch, und mein Vater ist Gott. Also, da könnten die Leute auch gleich Ben Becker anbeten.« Oder über die Musik Bruce Springsteens: »dieses rauchige, ranzige Abgefeiere der eigenen Schlunzigkeit«.
Und ganz nebenbei lernt man bei der Lektüre dieser im Gegensatz zu Martin Walsers oder Juli Zehs Schreibarbeiten auf robuste Weise ehrlichen Literatur auch noch etwas. Über Menschen zum Beispiel: »Fleischsäcke, gefüllt mit lauter ekelhaftem Zeug«. Oder über die Unterschiede zwischen Jung und Alt: »Junge Menschen waren so atemberaubend leer, im Grunde genommen waren sie nichts anderes als gehirngewaschene Zombies, Trendsoldaten, die für dümmliche Äußerlichkeiten in die Schlacht zogen, im Kampf gegen den Keim eines eigenen Ichs, einer individuellen Regung. Bis sie dann alt wurden (…) Dann machten sie entweder Yoga oder wurden bittere Zyniker.«
Fil: Kannibalen und Liebe. Ultra-fetzige Horror-Stories. Ullstein, 330 S., br., 13,99 €.
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