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»Titus Andronicus«: Die Rache läuft leer
Das in seiner Existenz bedrohte Berliner Gefängnistheater AufBruch bringt »Titus Andronicus« auf die Bühne
Im Innenhof der Justizvollzugsanstalt Berlin-Tegel entfaltet sich ein ungewöhnliches Schauspiel: Ein Ensemble aus Gefangenen bringt das blutige Rachestück »Titus Andronicus« nach William Shakespeare, Friedrich Dürrenmatt und Heiner Müller als Komödie zur Aufführung. Unter der Regie von Peter Atanassow, einem der künstlerischen Köpfe des Gefängnistheaters AufBruch, wird die Inszenierung im gesamten Juni gezeigt. 18 Laiendarsteller, allesamt Inhaftierte, bringen die Geschichte des römischen Feldherrn Titus auf die Freiluftbühne, der nach einem siegreichen Feldzug gegen die Goten in einen Kreislauf grausamer Vergeltung und Racheaktionen gerät: Der Zuschauer kann während der Vorstellung mindestens 14 Morde, eine Vergewaltigung und diverse Verstümmelungen zählen.
Die Auswahl des Werks wirkt programmatisch: In seiner extremen Gewaltdarstellung und durch Themen wie Ehre, Verrat und Rache spiegelt das Stück auch das gesellschaftliche Ringen um Schuld, Gewalt und Gerechtigkeit wider – gerade im Kontext des Strafvollzugs von besonderer Bedeutung. »In all unseren Stücken geht es um Grenzüberschreitungen, Regelverletzungen und das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft«, erklärt Atanassow. Den Regisseur interessiert, wie sich »Einzelne in eine Gemeinschaft einfügen, wann es zu eng wird, und wie sie damit umgehen – passiv oder kämpfend«.
Die Inszenierung konzentriert sich auf Titus’ Wandlung vom siegreichen Feldherrn zum Täter sowie Opfer brutaler Intrigen. Am Ende wird er einer solchen selbst erliegen. »Die Rache läuft leer«, heißt es im Stück und die Frage der Gerechtigkeit bleibt offen. Atanassow setzt mit seinem Ensemble auf wuchtige Chorpassagen – hier merkt man, dass die Bearbeitung des Stücks durch Heiner Müller eingeflossen ist – und eine sehr körperliche Darstellung, die Pathos und Brutalität betont. Sie werden jedoch immer wieder durch Gesang und Klamauk unterbrochen.
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Das Ensemble hat das Stück in einem mehrwöchigen Probenprozess erarbeitet – freiwillig und in der Freizeit, wie die Inhaftierten im anschließenden Publikumsgespräch betonten. »Dadurch entsteht eine Gemeinschaft, auch wenn es natürlich auch immer Konflikte gibt«, so der Darsteller H. Peter Maier, der im Stück überzeugend den Kaiser Saturnin gibt. Der soziale Effekt dieses Arbeits- und Aushandlungsprozesses sei extrem groß, ergänzt Atanassow. »Die Gefangenen erfahren Kollektivität, aber auch Anerkennung und Aufmerksamkeit. Das erhöht das Selbstwertgefühl.« Für Atanassow ein gelungener Beitrag zur Resozialisierung.
Auch die Produktionsleiterin Sibylle Arndt betont die gesellschaftliche Bedeutung des Theaters. Für sie ist es ein »Vermittlungsangebot«, das die Gefängnistore für die Öffentlichkeit öffne und Berührungspunkte zwischen Hochkultur und Haftalltag schaffe. »Für den gesellschaftlichen Zusammenhalt ist es essenziell, dass verschiedene Gruppen und Schichten sich kennenlernen und als Teil einer gemeinsamen Gesellschaft verstehen.« Dies sei ein erster Schritt zur Wiedereingliederung der Gefangenen.
Doch während sich Publikum und Spieler nach der Vorstellung auf diese Begegnung einlassen, steht das Gefängnistheater vor existenziellen finanziellen Problemen. Im Dezember 2024 wurde mitgeteilt, dass die Mittel aus dem Justizetat um 70 Prozent gekürzt werden – von rund 202 000 Euro auf nur noch 60 000 Euro jährlich. Die Kulturverwaltung fördert zwar weiterhin mit rund 110 000 Euro. Insgesamt sei das Budget halbiert worden, erklärt Arndt.
»Unsere Zukunft ist mit vielen Fragezeichen und Unsicherheiten behaftet. Planungssicherheit gibt es nicht mehr«, ergänzt sie. Zwar helfen neu eingeworbene Mittel aus der Lotto-Stiftung noch dieses Jahr, doch langfristige Perspektiven fehlen. Doch was geschieht, wenn sich die Bühne leert und die Scheinwerfer erlöschen? Für die Inhaftierten, die hier nicht nur spielen, sondern sich selbst einbringen und einen gemeinsamen Arbeitsprozess gestalten, wäre dies ein herber Rückschlag – nicht nur für ihre persönliche Entwicklung, sondern auch für die Resozialisierungsarbeit durch Kultur.
Nächste Vorstellungen: 12., 13. und 17. Juni
www.gefaengnistheater.de
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