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»Hand auf die Herdplatte«
Drei neue Romane über das Aufwachsen in frauenfeindlicher Umgebung: Ein Gespräch mit Lena Schätte, Mascha Unterlehberg und Michèle Yves Pauty
Sie drei haben zum Abschluss Ihres Studiums am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig Romane veröffentlicht: Frau Schätte »Das Schwarz an den Händen meines Vaters«, Frau Unterlehberg »Wenn wir lächeln« und Frau Pauty »Familienkörper«. In allen drei Büchern spielt das Aufwachsen in einem misogynen System eine Rolle. Bei Frau Schätte heißt es gleich auf der ersten Seite: »Wenn Frauen trinken ist es anders, als wenn Männer trinken.« Bei Frau Unterlehberg kämpfen die Protagonistinnen gegen Alltagssexismus und bei Frau Pauty gegen transgenerationale Traumata und Medical Gaslighting, das Phänomen, wenn Krankheitssymptome nicht ernst genommen werden. Haben Ihre Bücher damit auch eine politische Aufgabe?
Lena Schätte: Ich habe extrem lange über das Thema nachgedacht. Ich wusste aber nicht so richtig, wie man darüber schreiben kann, ohne dass es zum Vorwurf wird oder man Täter-Opfer-Kategorien aufmacht. Es gibt immer mehr Alkohol-Literatur und auch immer mehr weiblich gelesene Stimmen, die über ihr eigenes Trinken sprechen. Wenig Literatur schaut jedoch auch auf die Kinder und Ehepartner*innen. Auf ihre traumatisierenden Erfahrungen und darauf, was aus ihnen später wird.
Mascha Unterlehberg: Ich habe mich auch nicht hingesetzt und wollte einen politischen Roman schreiben. Für mich war aber von Anfang an klar, dass ich eine Freundinnenschaft zwischen jungen Frauen erzählen will, auch weil ich das selbst noch nicht oft gelesen habe: ambivalente, tiefgehende Freundinnenschaften, in denen es auch gegenseitige Verletzungen gibt. Mich hat auch die Frage interessiert, inwiefern Freundinnenschaft im alltäglichen Leben stärkend sein und welchen Raum sie einnehmen kann. Aber weil es sich eben um Frauen handelt, die, wie ich auch, in den Nullerjahren im Ruhrgebiet aufwachsen, sind automatisch politische Themen eingeflossen. Weibliche Sozialisierung, permanente Unsicherheit, Objektifiziertwerden.
Michèle Yves Pauty: Bei mir hat es ganz im Kleinen begonnen. Gewisse Krankheiten und Erlebnisse kommen, gerade bei den weiblich gelesenen Personen im Familienkörper, gehäuft vor. Vor allem bei meiner Schwester, bei der immer mehr Krankheiten dazu kamen, war es für mich der Versuch zu verstehen, woher das kommt. In dem Prozess, der sich über drei Jahre gezogen hat, hat sich auch bei mir ein Umdenken eingestellt, wie systematisch das Medical Gaslighting ist.
Lena Schätte wurde 1993 in Lüdenscheid geboren. 2014 veröffentlichte sie ihren ersten Roman »Ruhrpottliebe« und arbeitete als Psychiatriekrankenschwester. Seit 2020 studierte sie am Deutschen Literaturinstitut Leipzig (DLL). Mascha Unterlehberg wurde in Mülheim an der Ruhr geboren. Sie studierte Literaturwissenschaften und Kunstgeschichte in Freiburg und Paris und arbeitete an Theatern in Deutschland und der Schweiz. Ab 2020 hat sie am DLL studiert. Michèle Yves Pauty, geboren 1982, studierte Fotografie, Deutsche Philologie und Gender Studies in Wien. Sie arbeitet als Fotografin in Wien und Leipzig. Seit 2022 studierte sie am DLL.
Was macht es mit Ihrer Protagonistin, in einem kränkelnden »Familienkörper« aufzuwachsen in einem System, das ihr Krankheiten abspricht?
Pauty: Wir alle wachsen in Systemen auf und uns ist oft gar nicht bewusst, was darin alles schiefläuft. Es ein schmerzhaftes Aufwachen, wenn man erkennt, dass da ein System dahintersteht, dass es Möglichkeiten gäbe, etwas zu ändern, und zu sehen, wie wenig von politischer Seite getan wird. Wenn man es sich historisch anschaut: Viele Menschen kämpfen seit Langem dafür, dass beispielsweise misogynes Wissen in Schulbüchern geändert wird und es passiert einfach nichts. Namen und Wissen darüber kann empowernd sein, es macht aber auch wütend. Es ist ein schwieriger Prozess. In meinem Buch seziert sich quasi die Protagonistin, versucht, ihren Körper gesund und sich von Krankheiten fernzuhalten.
In Ihrem Buch, Frau Unterlehberg, versuchen die Protagonistinnen, in ihrem Aufwachsen füreinander da zu sein. Was macht die Beziehung von Jara und Anto aus?
Unterlehberg: Sie entscheiden sich füreinander und dafür, sich Halt zu geben in einer Welt, die sie oft als feindselig und beängstigend empfinden. Sie versuchen, die Außenwelt auszublenden, aber Stück für Stück müssen sie feststellen, dass das nicht geht. Es stellt sich die Frage: Wie sehr kann eine Beziehung gegen misogyne Strukturen bestehen und wo schaffen die beiden es nicht mehr, sich gegenseitig aufzufangen?
Und die Beziehung hat auch etwas sehr Destruktives.
Unterlehberg: Absolut. Ich glaube, das ist gar nicht untypisch für junge Freundschaften. Man hat das Gefühl, dass diese Freundschaft für immer halten wird und das Wichtigste im Leben ist. Gleichzeitig weiß man noch nicht, wer man ist oder sein will, und das Potenzial, sich gegenseitig zu verletzen, ist sehr hoch. Hinzu kommt die Verinnerlichung des Male Gaze, des Gefallenwollens, und keine Worte für Dinge zu haben, für die man sich schämt.
Ambivalenz in den Beziehungen ist auch bei Ihnen wichtig, Frau Schätte. Welche Lösungen haben Sie gefunden, um keine klassischen Täter-Opfer-Rollen zu schreiben?
Schätte: Ich habe als Krankenschwester im Suchthilfesystem mit Betroffenen gearbeitet und weiß, dass sie genauso komplex und ambivalent sind wie alle anderen Menschen. Mal ist man besoffen und destruktiv und mal lacht man zusammen und lebt eben Alltag. Es ist alles gleichzeitig da. Was schwierig beim Schreiben war, ist, dass es sich manchmal angefühlt hat, als würde ich die Hand auf die Herdplatte drücken und schauen, wie lange ich es aushalte. Ich habe mich bemüht, dass immer etwas Hoffnung mitschwingt. Texte zu schreiben, bedeutet, monatelang mit den Figuren in einer Welt zu leben. Schreiben war manchmal, wie in den Keller zu gehen. Es war gut, dann auch wieder hochzukommen.
Für mich hatten alle Ihre Bücher, trotz der harten Themen, weder unerträgliche Schwere noch Pathos.
Schätte: Auf jeden Fall. Alle drei Themen haben das Potenzial für Sozialkitsch, aber das haben wir gut umschifft. Wir schreiben alle eher reduziert, glaube ich. Wir beschreiben, anstatt dass wir übermäßig emotionalisieren. Das könnte auch der Einfluss unseres Studiums am Literaturinstitut sein.
Pauty: Damit sind wir Kinder unserer Zeit, auch in dem, was wir lesen. Es sind keine neuen Themen, deshalb hat sich mir auch die Frage gestellt, wie man erzählt, ohne zu wiederholen, wie man einen neuen Blick schaffen kann.
Wie meinen Sie das?
Pauty: Ich weiß nicht, ob ich das gleiche Buch 20 Jahre früher hätte schreiben können, ohne Autor*innen wie Carmen Maria Machado, Maggie Nelson, Esther Kinsky. Und selbst wenn ich es geschrieben hätte, wäre die Frage, ob ich einen Verlag dafür gefunden hätte.
Unterlehberg: Vor 20 Jahren gab es politische Diskurse wie die #MeToo-Debatte nicht in dieser Form. Danach wurde etwas sichtbarer, dass zum Beispiel der Sexismus, über den ich schreibe, strukturell ist. Aus diesem Wissen heraus kann ich heute Dinge klarer benennen.
Trotz der schwierigen Umstände entdecken Ihre Figuren in den drei Romanen ihre Handlungsfähigkeit. Das scheint mir ein schwieriger Grat: die gesellschaftlichen Umstände darstellen, ohne die Figuren ihrem Schicksal zu überlassen.
Unterlehberg: Für mich war es beim Schreiben essenziell, den Figuren Handlungsfähigkeit mitzugeben. Sie fühlen sich oft ohnmächtig, deshalb habe ich ihnen viel Wut mitgegeben. Man kann darüber streiten, ob sie immer gerechtfertigt ist. Aber es ist auch befreiend gewesen, sie diesen beiden jungen Frauen mitzugeben.
Schätte: Bei Alkoholismus ist das Narrativ oft: Jemand ist süchtig, dann gibt es ein Wendepunkt-Erlebnis und spätestens beim zweiten Versuch ist man dann clean, fährt in den Sonnenuntergang, sieht gut aus und ist gut durchblutet. Es gibt diese Geschichten, aber mir sind in der Arbeit eher die Menschen begegnet, die die Sucht als chronische Erkrankung ihr Leben lang mit sich tragen. Sie müssen immer wieder zwischen Clean-Phasen und Konsum balancieren, es schaffen, nicht Job und Familie zu verlieren, nicht aus dem System herauszurutschen, den Körper aufrechtzuerhalten. Ich wollte eine Figur erzählen, die transgenerationale Traumata erkennt und dagegen ankämpft.
Pauty: Ich habe viel über das Schreiben an sich nachgedacht, wer über wen spricht. Daher finden sich Interviewpassagen von meinen Familienmitgliedern in dem Roman wieder. Ich wollte nicht nur über meine Familie schreiben, sondern ihnen eine Stimme in dem Roman geben. Es gibt kein unpolitisches Schreiben oder Schweigen. Nach Lesungen sind Menschen zu mir gekommen und haben mir gesagt, dass sie gar nicht wussten, dass es einen Begriff für Medical Gaslighting gibt. Wissen und Verständnis mitzugeben, war für mich im Schreibprozess wichtig.
Lena Schätte: Das Schwarz an den Händen meines Vaters. Fischer-Verlag, 192 S., geb., 24€.
Mascha Unterlehberg: Wenn wir lächeln. Dumont, 256 S., geb., 23 €.
Michèle Yves Pauty: Familienkörper. Haymon, 224 S., geb., 23,90 €.
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