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Mary Lou Williams: Ein Hoch auf die Zombie-Musik
Kennen Sie die wichtigste Frau der Jazzgeschichte? Eine Erinnerung an die Pianistin Mary Lou Williams
Schon etwas deprimierend, wenn man wieder mal draufkommt, dass man von einer Sache viel weniger Ahnung hat, als man denkt. Wo ich ja gern mal damit angebe, mich mit Jazz so’n bisschen auszukennen; lässig in die Runde werfe, dass Sun Ra nicht sofort von einem Planeten outer space kam, sondern erst mal Ende der 40er als Rhythm&Blues-Pianist bei Wynonie Harris trainierte, kein Geheimnis, liebe Leute.
Aber was, zur Hölle, ist »Zombie music«?! Und wer war die Pianistin Mary Lou Williams, die am 28. Mai 1981 mit 71 Jahren den Planeten Erde verlassen hat? Keine Ahnung, nie gehört.
Bis ich kürzlich an die tausend Seiten starke Anthologie »Reading Jazz« geriet. Eine auch literarisch großartige Compilation, 1995 herausgegeben von »New Yorker«-Chefredakteur Robert Gottlieb, mit Ausschnitten aus Musikermemoiren, Konzertberichten, Essays, Kritiken. Mit allem, was seit den frühen Jazztagen zwischen black & white und Ragtime & Free passierte. Von Mary Lou Williams ist der längste autobiografische Text, den sie 1954 im britischen »Melody Maker« veröffentlicht hatte. Eine Abenteuerstory wie von Jack London über den Stoff, aus dem Gangster-Jazzfilme wie »Cotton Club« gemacht wurden. Denn die 1910 geborene und (wie sie Gottlieb vorstellte) »mit Abstand wichtigste und einflussreichste Frau der Jazzgeschichte« war »überall, kannte jeden und hat alles gesehen«.
Sie bekam nie ordentlichen Klavierunterricht, aber die beste bodenständige Ausbildung, zuerst von der Pumpharmonium spielenden Mutter. Als sie in die Schule kam, war sie schon in ganz Pittsburgh »the little piano girl«, das von »white-society people« gebucht wurde oder von ärmeren Afroamerikanern, die Partys veranstalteten, um für die Miete zu sammeln, und ihr Vater, ein professioneller Spieler, nahm sie öfter in die verrauchten Clubs mit, wo sie für ein paar Dollar mehr spielte, bevor die Karten gezogen wurden. Die Kleine nahm sich eine unbekannte Pianistin als Vorbild: »Sie saß mit gekreuzten Beinen am Piano, Zigarette im Mund, schrieb mit der rechten Hand Noten auf ein Blatt und begleitete mit ihrer swinging linken die Show! Beeindruckt sagte ich zu mir selbst: ›Mary, so machst du das auch eines Tages.‹« 1927 war auf der ersten Schellackplatte mit ihrem Namen ihr flotter Ragtime »Nightlife«, und darüber wusste sie endgültig alles, seit sie mit 14 zwei Monate mit einer »black vaudeville show« auf Tour gewesen war. Zur Show gehörte, dass sie die Tasten auch mit Fäusten und Ellenbogen bearbeitete und mal ums Klavier rannte.
Schlechtere Karten konnte eine nicht kriegen: junge Frau, schwarz, und Jazz (nicht als Sängerin, sondern als Bandmusikerin). Aber ihre Fähigkeiten als Pianistin, Arrangeurin, Komponistin sprachen sich so schnell herum, dass sie bald (als in Nazi-Germany diese »anglo-jüdische Seuche« verbannt werden sollte) von den Stars Duke Ellington und Benny Goodman Aufträge bekam.
Ihre Story haute mich, obwohl an Jazz vor circa 1945 kaum interessiert, vollends vom Hocker, und ich fing endlich an, mich durchzuhören, bis dann ihr Freund Thelonius Monk auftritt. Und zwar mit dem mich sofort faszinierenden Ausdruck »Zombie music«.
Mitte der 30er traf Mary Lou Williams in »Kaycee« (Kansas City) den Teenager Monk, der mit einer »evangelist or a medicine show« daherkam, und sie beide hätten schon damals als erste diese »schrägen Harmonien« gespielt (mit denen er für immer auffällig werden sollte), »nur dass wir das in jenen Tagen ›Zombie music‹ nannten, und das war hauptsächlich nur für Musiker nach dem Auftritt reserviert. Warum Zombie music? Weil uns die verrückten Akkorde an die Musik aus ›Frankenstein‹ oder einem anderen Horrorfilm erinnerten.«
Neugierig immer weiter rumprobieren – das war noch was Besonderes an dieser außergewöhnlichen Mrs. Williams, dass sie die Blues-Gospel-Ragtime-Tradition, aus der sie kam, immer hochhielt und zugleich jede Erneuerung beobachtete und sich beeinflussen ließ. Sie erzählte wütend von den Problemen, die mit den Zombie-Aspekten des Jazz Anfang der 40er in New York zu tun hatten. Für Afroamerikaner war es die same old story, Innovatives sei immer schnell geklaut und ausgebeutet worden und »wie im Musikgeschäft üblich« würden die Namen groß, »die genug Geld für bezahlte Publicity haben«. Bis Monk endlich verkündet habe: »Wir machen jetzt was Neues, das sie nicht stehlen können, weil sie’s nicht spielen können.« Die »Musik-Reaktionäre sagten von Anfang an nur übelstes Zeug über Bop«, schrieb Williams – weil Bebop eben, schrieb Jean Améry, »die gleichsam gewalttätige Revolution im Jazz« gewesen sei.
Sie hatte mit den Revolutionären um Monk und Art Blakey, der als Teenager in ihrer Band angefangen hatte, kaum auf Milton’s oder einer anderen Bühne gestanden, weil sie ein Dauerengagement hatte, dennoch stets mittendrin. Mit »disc jockeys and newspapermen« liefen sie morgens um vier, wenn alle Jobs erledigt waren, in ihrer Wohnung ein, »wir spielten und tauschten Ideen« und »hauten richtig auf den Putz.« Was typischerweise irgendwann zu ihrer Einstufung als »Mother of Bebop« führte. Warum nicht Schwester? Warum nicht gleich Krankenschwester! Sie nahm keine Drogen, sondern gründete mehrmals Hilfsorganisationen, nicht nur für die vielen Jazzer, die schwer drauf waren.
Zombiemusic, verrückte Akkorde gegen jede Art von Musikreaktionären, sollte sie auch in den nächsten Jahrzehnten nie vergessen. Egal, ob sie für Folkways oder ihre eigenen Mary Records Platten aufnahm, Unterricht gab, schlechte Phasen durchstehen musste, Katholikin wurde, Orchesterwerke schrieb, mit Dizzy Gillespie im Blitzlichtgewitter stand, Doktortitel bekam: Sie blieb unberechenbar, dabei immer den Blues-Wurzeln verbunden und gegen Stillstand. Was für ein Statement war 1978 eines ihrer letzten Alben: ein Konzert, bestes Hassfutter für Jazzologen, die keinen improvisierten Spaß verstehen, ein crazy Zombie-Treffen mit dem Brutal-Avantgardisten Cecil Taylor, der wie alle Großen die alten Geschichten kannte und seine oft gewaltigen und gleichsam gewalttätigen Soundberge, wie schon die kleine Mary Lou, auch mit Fäusten und Ellenbogen aufbaute.
In den Jazzlexika bekommt sie, wenn überhaupt, nur so’n bisschen Raum, und selbst im umfangreichen neuen, ganz den Afroamerikanern gewidmeten »The Sound of Rebellion – Zur politischen Ästhetik des Jazz« nur paar Zeilen, aber in den Vereinigten Staaten ist sie präsent. Mit inzwischen drei Biografien, einem »Mary Lou Williams Woman in Jazz Festival« (bis jetzt noch jährlich am Kennedy Center), einer Foundation zur Förderung der Jüngsten, Neueinspielungen (z.B. Geri Allen mit Oliver Lake und Andrew Cyrille) oder, so aktuell wie vielsagend, eine Hymne von Moor Mother auf ihrem History-Hiphop-Jazz-Poetry-Collage-Album »Jazz Codes«.
Sätze für die Zukunft hatte die Mutter der Zombiemusic schon in ihren leider nie fortgesetzten Memoiren von 1954 geschrieben: »Ich werde niemals einen Roboter-Pianisten bewundern, dessen Läufe nur straight aus seinem Studium und nicht aus seinen Gefühlen kommen.«
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