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»Im langen Sommer geboren«: Szene kaputt
Jens Winter betreibt mit seinem Debüt »Im langen Sommer geboren« eine Nabelschau der antideutschen Kulturlinken
»Ich sitze im Laidak und trinke einen Espresso. Der Himmel ist grau. Ich habe ein schwarzes Polo an, wie immer, und meine Haare ordentlich zu einem Seitenscheitel frisiert. Ich bin aufgewühlt. Als ich vorhin die Sonnenallee entlanglief, wurde ich von einer Gruppe Jungen beleidigt. Sie sagten, ich sehe aus wie eine Schwuchtel. Ich habe meinen Stoffbeutel ganz fest an mich gedrückt und bin schnell zum Laidak gelaufen.«
So beginnt Jens Winters Debütroman »Im langen Sommer geboren«, der Anfang Juni im Berliner XS-Verlag erschienen ist. Die Parallelen zu Christian Krachts »Faserland« (1995) sind aufdringlich. Barbour-Jacke, S-Klasse und P1, das war damals der Code der deutschen Upperclass. Dagegen schickt Winter uns in die Berliner Klischeehölle des Mittelstands. Dazu gehört, wer über die Neue Marx-Lektüre smalltalken kann und seine Notizbücher bei Modulor kauft. Wie in der literarischen Vorlage stolpert der Erzähler simplicissimus-mäßig zwar nicht durch die halbe BRD, dafür aber durch ein angesagtes Berlin. Von Situation zu Situation trifft er auf alte Bekannte, die aber schnell wieder aus dem Blickfeld verschwinden.
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So geht es von der Szenekneipe über die Nachmittags-WG-Party zum Vortrag ins Brecht-Haus, am Ende mit dem Zug nach Freiburg. Auf der Flucht aus dem Milieu wird kein Stereotyp ausgelassen. Man trinkt Wodka-Mate, niemals Aperol-Spritz. Islamistenbärte veranlassen zu langen Grübeleien. Hintergrundrauschen für dauerpräsente Lifestyle-Attitüden, »Markenfetischismus« nannte man das damals. Einschlägiges Personal tritt auf: Bei Kracht ist es der Trendforscher Matthias Horx im ICE, bei Winter darf Ines Schwedtner den Schaffner für den nächsten Streik agitieren.
Vor allem entwendet Winter den typischen »Faserland«-Sound: kurze klare Ich-Hauptsätze, fast primitive Beschreibungsprosa. Im Ton liegt eine unfassliche Mischung aus Naivität, Ironie und Zynismus, die Außen wie Innen der Lächerlichkeit preisgibt. Kracht wurde dafür gefeiert und gescholten. 1995 war das aufregend und radikal, weil zumindest hierzulande neu. Drei Jahrzehnte später schreibt Jens Winter nun das antideutsche »Faserland« – geht das? »Faserland« war doch bereits das antideutsche »Faserland«. In den entsprechenden Kreisen besitzt das Buch Kult-Status, saturierte Gewerkschafter wurden da genauso persifliert wie linksgrüne Taxifahrer. Das gipfelte in dem Gerücht, Kracht himself sei Abonnent der Zeitschrift »Bahamas«.
Das antideusche Kampfblatt spielt in »Im langen Sommer geboren« keine Rolle, dieses Milieu ist weniger verbissen, man gibt sich poppig und kulturoffen. Diedrich Diederichsen statt Justus Wertmüller. Den paradigmatischen Roman für dessen Sekte hatte 2022 bereits Finn Job (»Hinterher«) geschrieben. Darin wird exzessiver Drogenkonsum ausgestellt, als sei das keine längst salonfähige Schlüssellochguckerei. Dazu die gar nicht mehr so nischige Klage über schlimme Zustände in Nord-Neukölln. Winter tut Recht daran, das gleich in den ersten Sätzen zu verspotten. Job betreibt Identitätspflege und schreibt deshalb Tendenzliteratur. Die einen dürfen sich dran aufgeilen, die anderen vor Wut schäumen. Die sogenannte Israelsolidarität ist mittlerweile auch im deutschen Bürgertum schick geworden, aber in keinem Kopf ist es danach irgendwie heller.
Nehmen wir ein weiteres post-krachtsches Referenzwerk hinzu. In »Allegro Pastell« von Leif Randt gibt es ebenfalls eine Passage, die im »Laidak« spielt. Der völlig außenstehende Randt schreibt dort einige Zeilen über die »Spaltung der Antideutschen« aus der Wikipedia ab. Seine Methode besteht in einem möglichst wertungsfreien Erzählen. Alles wird dargestellt, nichts darf Konsequenzen haben. Mit der absurden Folge, dass einige in »Allegro Pastell« schärfste Kritik an der gegenwärtigen Konfliktunfähigkeit herauslesen wollten, deren Verursacher sich allerdings in ihrer Larifari-Haltung bestätigt und gefeiert sahen. Bifi essen und »Ich liebe dich« sagen. Hyperironie soll das sein, wie Randt es selbst nennt – über jede politische Deppenweisheit hinaus; zum Preis völliger Beliebigkeit.
Winters Text nun siedelt sich genau in der Mitte dieser Kracht-Randt-Pole an. Die Stil-Kopie führt aus dem Dilemma heraus, weder verdoppelt er einfach politische Urteile noch verfällt der Subtext in ein anything goes. Alles hängt am Sound: Wer hier nur Überheblichkeit erkennen will, übersieht, dass der Protagonist selbst ein armes Würstchen ist. Dieses Ich ist hilflos eingeklemmt in die unsinnige Logik einer zur »Szene« regredierten Bewegung. Wo es längst um keine wirkliche Politik mehr geht, bleiben nur hartnäckige Meinung und erwartbare Beißreflexe. Einfühlen kann man sich darin nur negativ. Im Grunde sagt jeder Satz, ohne es sagen zu können: Alles falsch! Und ich Volltrottel bin auch noch mittendrin. Ideologiekritik, ausnahmsweise mal auf das eigene Ticket-Denken angewandt.
So ist die Karikatur des eigenen Milieus durchgehend gebrochen und eigentlich selbstironisch zurückgenommen. Aber eben nicht ganz. Der ehemals beste Kumpel Michel, gerade aus den USA zurückgekehrt, bringt mit seiner neuen, nervigen Freundin Attention auch einen Schwall postmoderner Theorie mit. Überdeutliche Woke-Satire, die trotz Meta-Ironisierung bestehen bleibt. So kippt es hin und her. Sind »woke« und »antideutsch« nur zwei verschiedene Masken desselben Elends? Prinzipiell bleibt unklar, »ob er das ernst meint oder spielt«, wie Winter selbst etwas zu streberhaft als poetologischen Hinweis eingeflochten hat. Potenziell könnten Adepten das Buch zur Selbstbeweihräucherung lesen, genauso wie umgekehrt Erfahrungshungrige darin einen Ansatz zur Ent-Identifizierung sehen könnten.
Der Roman funktioniert also; mit Einschränkungen. Da ist das Selbstmissverständnis des Autors, hier handle es sich um Gegenwartsliteratur. Die politischen Schocks der Corona-Jahre mitsamt den darauffolgenden Kriegen haben die Reste der Linksantideutschen als Phänomen spätest-westdeutscher Dekadenz endgültig hinweggefegt. Es geht um die Vergangenheit, wie schon der Titel andeutet. Er bezieht sich auf Phillip Felschs »Der lange Sommer der Theorie«, vor allem aber auf eine Catchphrase aus der Serie »Game of Thrones«: Winter is not coming but already there. Realismus ist nicht Winters Sache, aber es hätte zu größerer innerer Konsistenz beigetragen, auf alle Bezüge post-2020 zu verzichten. Erklärungsbedürftig bleibt zum Beispiel, weshalb nicht das »Bajszel« als kuschelige Szene-Kneipe gewählt wurde, das dahingehend das »Laidak« lange abgelöst hat.
So gut platziert ansonsten auch die Schläge sind, die Winter austeilt, nur Eingeweihte können sie wirklich treffen. Das symbolische Spiel mit der Oberfläche wird bei Außenstehenden zurecht hohen Blutdruck verursachen. Die erzählerische Unentschiedenheit ist zugleich die größte Schwäche des Romans. Denn was führt aus dem Szene-Sumpf hinaus? Das muss notwendig offen bleiben. Der Verdacht wird sich regen, dass die Ambivalenz bloß die verzweifelte Verlängerung der Pseudopolitik in die Literatur darstellt. Den letzten Satz könnte man so deuten, dass diese Selbstbezüglichkeit doch überschritten wird: »Sein Torso glühte noch« zitiert er Rilke und gibt über Bande die große Parole der Kunst aus: Du musst dein Leben ändern. Die Erfahrung lehrt, wie taub viele Antideutsche dafür sind. Christian Kracht hat nach »Faserland« nie wieder Popliteratur geschrieben.
Jens Winter: Im langem Sommer geboren. XS-Verlag, 140 S., geb., 22 €.
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