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Kriegserklärung gegen eine ganze Region
In Nahost befürchten vor allem die Palästinenser negative Auswirkungen des israelischen Angriffs auf den Iran
Mit mehreren Angriffswellen haben die israelische Luftwaffe und der Auslandsgeheimdienst Mossad in der Nacht auf Freitag das iranische Atomprogramm, die Armeeführung und Atomphysiker ins Visier genommen. Nachdem mehr als 200 Kampfflugzeuge von Israel aus in den 1000 Kilometer entfernten Iran gestartet waren, schickten offenbar eingesickerte Mossad-Geheimkommandos mehrere auf Lastwagen montierte Drohnen auf den Weg, sie trafen in Teheran und tief im Landesinneren programmierte Ziele. Augenzeugen berichten von zerstörten Wohnungen im Zentrum von Teheran und Einschlägen auf dem Gelände der Atomanlage Natanz sowie auf drei Militärstützpunkten im Nordwesten des Landes.
»Das ist eine glasklare Kriegserklärung«, sagte Ali Akbar Dareini, Politikwissenschaftler am Teheraner Zentrum für Strategische Studien. »Das israelische Vorgehen wird unvorhersehbare Konsequenzen haben. Der Abzug der amerikanischen Diplomaten aus dem Irak und anderen Ländern in der Region zeigt, dass Washington in die Pläne eingeweiht war«, sie sogar koordiniert habe, fuhr er fort.
Während die iranische Führung spätestens seit den letzten israelischen Luftangriffen im Oktober 2024 mit einer erneuten Attacke rechnen musste, war sie auf die im Land selbst gestartete Drohnenattacke offenbar nicht vorbereitet. Iranische Medien bestätigten am Freitagmorgen den Tod von Generalstabschef Mohammad Bagheri und von Hossein Salami, dem Chef der mächtigen islamischen Revolutionsgarde. Er hatte aus der Parallelarmee ein Wirtschaftsimperium gemacht. Wenige Tage vor seinem Tod warnte Salami, seine geschätzt rund 190 000 Soldaten stünden »für jedes Szenario bereit«.
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Atomwissenschaftler im Schlaf getötet
Sechs Atomwissenschaftler wurden nach jahrelanger Bedrohung durch israelische Kommandoaktionen nun im Schlaf von Raketen oder Drohnen tödlich getroffen. Das staatliche Fernsehen zeigte nächtliche Videoaufnahmen von Löscharbeiten in brennenden Apartmentblocks in Teheran mit klaffenden Einschlaglöchern und fehlenden Außenwänden. Unter den Opfern ist laut Staatsfernsehen auch Fereidun Abbassi, der ehemalige Leiter des iranischen Atomprogramms. Zusammen mit Mohammad Mehdi galt er als einer der Köpfe des iranischen Uran-Aufbereitungsprogramms.
Auch die Wohnung des Leiters der aktuellen Atomgespräche mit den USA, Ali Schamkhani, war in der Nacht von einer Hellfire-Rakete aus US-Produktion getroffen worden. Schamkhani wurde dabei schwer verletzt, berichten Journalisten in Teheran. 70 Zivilisten sollen den Angriffen zum Opfer gefallen sein, so das Gesundheitsministerium in Teheran, 320 Verletzte lägen in Krankenhäusern.
Auch wenn nach wenigen Stunden wieder Ruhe einkehrte, der Überraschungsangriff ist wohl nur der Auftakt einer Reihe von Angriffswellen beider Seiten. Der nun von einem Bunker unterhalb von Jerusalem aus regierende Benjamin Netanjahu rief die Bürger auf, durchzuhalten. »Seit Jahrzehnten haben die Tyrannen von Teheran offen zur Zerstörung von Israel aufgerufen und ihren Zerstörungswillen mit dem Atomprogramm untermauert«, so Netanjahu am Freitagmorgen. »Diese Operation wird so viele Tage andauern, wie es nötig ist, diese Bedrohung zu beseitigen.«
Vergeltungsangriff des Irans mit Drohnen
Als erste Antwort hat der Iran nach eigenen Angaben 200 Drohnen in Richtung Israel auf den Weg geschickt. Die langsam fliegenden Fluggeräte waren ein leichtes Ziel für das israelische Flugabwehrnetzwerk »Iron Dome«. Doch die in den Vortagen im Rahmen von Militärmanövern gezeigten Langstreckenraketen dürften dem israelischen Militär größere Sorgen machen. Sollten diese in größerer Zahl als im Vorjahr gegen Tel Aviv oder die Nevatim-Militärbasis in der Negev-Wüste zum Einsatz kommen, könnte der Schaden beträchtlich sein.
»Es ist der nächste Krieg, mit dem Netanjahus Regierung von ihrem eigentlichen Plan ablenken will: der Schaffung eines Groß-Israels und kleiner palästinensischer Enklaven.«
Ali Hamdi Student aus Ramallah
Außerdem könnte der Iran die Straße von Hormus blockieren und so 20 Prozent der weltweiten Ölversorgung kappen; dafür bräuchte es nur kleine Schlauchbooteinheiten der Revolutionsgarde. Die mögliche Eskalation in der weltweit wichtigsten Schifffahrtsroute der Ölbranche ließ am Freitag den Preis der Ölsorte Brent um mehr als sechs Prozent ansteigen.
In der Region reagierten viele Menschen mit Wut und Ohnmacht auf den Krieg zwischen Israel und dem Iran. »Auch wenn Israel dies als Militär-Operation bezeichnet, sagt der Student Ali Hamdi aus Ramallah dem «nd» am Telefon. «Es ist der nächste Krieg, mit dem Netanjahus Regierung von ihrem eigentlichen Plan ablenken will: der Schaffung eines Groß-Israels und kleiner palästinensischer Enklaven.»
Auswirkungen auf die besetzten palästinensischen Gebiete
Viele Palästinenser im besetzten Westjordanland fürchten, dass sich mit der Eskalation des iranisch-israelischen Konfliktes ihre Lage noch weiter verschlimmern werde. Am Freitagmorgen rückten Konvois der israelischen Armee in alle größeren Städte wie Nablus und Ramallah ein. Die schon seit dem 7. Oktober 2023 eingeschränkte Bewegungsfreiheit zwischen den Orten wurde mit der Verhängung einer De-facto-Blockade nun fast vollständig aufgehoben. Finanzminister Bezalel Smotrich will große Teile des nach internationalen Recht nicht zu Israel gehörenden Gebietes annektieren.
Der Minister für strategische Projekte, Ron Dermer, warnte vor zwei Wochen Frankreich und Großbritannien davor, einen palästinensischen Staat anzuerkennen. Dann werde man das von Israel verwaltete C-Gebiet annektieren und alle jüdischen Siedlungen legalisieren, so Dermer. Israelische und palästinensische Aktivisten von «Breaking the Silence» warnen schon lange vor der Theorie des «letzten großen Krieges», die unter den radikalen Koalitionspartnern von Netanjahu kursiert. Smotrich und andere drängten in Koalitionskreisen immer wieder zu einem Militärschlag gegen den Iran und die Fortsetzung des Krieges in Gaza, um jegliche diplomatischen Initiativen einer Zweistaatenlösung im Keim zu ersticken.
Am Freitagmittag rollte dann bereits eine zweite israelische Angriffswelle über den Iran. Über dem Militärflughafen von Hamedan stiegen riesige Rauchwolken auf. Die israelische Armee verkündete später die Zerstörung großer Teile des Atomforschungsgeländes in Natanz. Der Chef des israelischen Militärgeheimdienstdirektorats, Shlomi Binder, ließ keinen Zweifel daran, dass die Angriffe in den nächsten Tagen intensiver werden. «Es geht um nichts weniger als unsere Existenz.»
Iranischer Präsident spricht von «törichtem» Vorgehen Israels
Der Iran hat nach Angaben von Experten jahrelang daran gearbeitet, seine Atomanlagen gegen die Gefahr militärischer Angriffe zu schützen, was eine vollständige Zerstörung erschwere. «Die Art von Beton, die (die Iraner) verwenden, ist tatsächlich ein sehr spezieller, gehärteter Beton», sagte der Militäranalyst Cedric Leighton dem US-Fernsehsender CNN. Es sei unklar, ob israelische Bomben diese Art von Beton durchdringen könnten. «Die Israelis müssten eine Angriffswelle nach der anderen starten», erklärte er.
Einige Atomanlagen befinden sich laut Experten zudem tief unter der Erde. Die israelische Luftwaffe verfüge über keine B-2- und B-52-Bomber, die sogenannte Bunkerbrecher-Bomben des US-Verbündeten transportieren könnten, berichtete die US-Nachrichtenseite «Axios». Solche schweren Bomben wären wahrscheinlich nötig, um die unterirdische Uran-Anreicherungsanlage Fordo im Iran zu treffen, hieß es.
Der iranische Präsident Massud Peseschkian nannte das israelische Vorgehen «töricht», die Verantwortlichen «würden zur Rechenschaft gezogen werden». Für eine größere militärische Reaktion werden sich Teherans Machthaber wohl Zeit lassen, auch weil sie in der direkten Konfrontation unterlegen sind. Aber sie haben anders als das kleine Israel ein riesiges Mobilisierungspotential an Menschen. Vor der Dschamkaran-Moschee in der Stadt Qom wurde am Freitag still und leise eine rote Flagge gehisst. Sie gilt als traditionelles schiitisches Zeichen für Rache.
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