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Religionsunterricht für die Herzenbildung: Lehren, wach zu sein
Holger Losch hat in Templin in Sachen Erinnerungsarbeit viel bewegt
Das hier wird eine Art journalistische Liebeserklärung. Ich schreibe über einen, mit dem ich seit Jahrzehnten befreundet bin: Holger Losch. Rückblende: Herbst ’89. Holger paddelte zwecks Selbstfindung auf der Donau. Ich dümpelte in Göttingen vor mich hin. Er lernte auf seiner Paddeltour kurz vor Budapest eine Theaterplastikerin aus Ostberlin kennen. Wieder in Göttingen zurück, erzählte er mir von der Gethsemane-Kirche, von Kerzen, Gebeten und viel Polizei. Dann fiel die Mauer.
Er wollte zu seiner neuen Freundin, ich wollte von meiner »alten« weg. So zogen zwei Theologiestudenten aus dem Westen in den Prenzlauer Berg und lernten den Osten kennen: die Leute, die Kultur, die Geschichte. Vor allem unternahmen sie einmalig schöne Paddeltouren. Unsere Laufbahnen in seiner westfälischen und meiner rheinischen Landeskirche schienen vorgezeichnet. Doch dann wurde ich vom Virus des freien Journalismus angesteckt und Holger war fasziniert von der Uckermark.
Nach dem Studium ging er nach Templin und baute dort den evangelischen Religionsunterricht auf. Mit außergewöhnlichen Projekten: Es ging um die Erforschung der jüdischen Geschichte in der Uckermark. »Das war am Anfang auch eine Sache des Werbens für den Religionsunterricht«, sagt er. »Als ich 1997 anfing, hatte ich fünf Schüler. Aber in einer so kleinen Stadt wie Templin geht es relativ schnell, dass man in die Zeitung kommt«, erinnert er sich heute. Und er kam ins Radio: Ich stellte den ambitionierten Religionslehrer in meinem ersten SFB-Hörfunkbeitrag vor.
»Ich hatte neulich fast ein Déjà-vu. Es gab eine Kundgebung der AfD auf dem Marktplatz. Jugendliche machten das White-Power-Zeichen. Und ich dachte: Das kann doch nicht wahr sein, dass diese Phase der 90er so ein Revival erlebt.«
Holger Losch Religionslehrer
Zu Beginn nahmen nur etwa sechs Prozent der etwa 850 Gymnasiasten an Holgers Unterricht teil. Heute sind es teilweise 30 pro Klasse, obwohl Religion weiter ein freiwilliges Fach ist. Damals waren es die ersten Wagemutigen, die ahnten, dass sie bei dem neuen Religionslehrer nicht beten und still sein lernen würden, sondern Wachheit und gesellschaftspolitisches Engagement. Bis heute hält er Kontakt zu ihnen, die längst eigene Familien gegründet haben.
Seine ersten Schüler leisteten Pionierarbeit, erforschten die Geschichte der Juden von Templin, entwarfen ein Bodendenkmal für die ehemalige Synagoge, die einst im Hinterhof eines Fachwerkhauses stand. Eine Gedenkplatte aus Bronze wurde ins Pflaster eingelassen – und mit Speziallack gegen rechte Schmierereien geschützt. »Bakesch Schalom weradfehu – suche den Frieden und jage ihm nach« steht bis heute als Mahnung aus dem 34. Psalm darauf.
Vormals gab es in Templin nur einen kleinen Gedenkstein auf dem ehemaligen jüdischen Friedhof vor den Toren der Stadt. Er wurde mehrmals umgestoßen. Laut Ordnungsamt angeblich durch einen Fuchs. Ob dieser Fuchs auch die Schmierereien auf dem Gedenkstein verursacht hatte, fragten sich die Schüler? Es waren die Springerstiefeljahre. Die Stimmung war aggressiv gegen Ausländer, gegen Juden, gegen Linke. »Bisweilen standen Autos von Rechtsextremen auch vor unserer Wohnung, mit laufendem Motor, symbolisierend: Wir wissen, wo Du wohnst«, erzählt Holger.
Und: »Ich hatte neulich fast ein Déjà-vu. Es gab eine Kundgebung der AfD auf dem Marktplatz. Jugendliche machten das White-Power-Zeichen. Und ich dachte: Das kann doch nicht wahr sein, dass diese Phase offensichtlich so ein Revival erlebt. Das hat etwas Frustrierendes, aber auch etwas Aktivierendes.« Tatsächlich organisierte Holger mit Gleichgesinnten eine Gegendemo. Nach Jahrzehnten seines Unterrichts gibt es heute in Templin nicht nur sichtbare Zeichen gegen Hass und Fremdenfeindlichkeit, sondern auch so etwas wie ein bürgerliches Netzwerk gegen rechts.
Als er neu in Templin war, gab es in der Schule auch Vorbehalte gegen den Mann aus dem Westen. »Man hatte so die Befürchtung, jetzt kommt der schwarze Staatsbürgerkunde-Unterricht, und der Theologe missioniert alle Schülerinnen und Schüler«, erinnert er sich. Er biss sich durch und fand immer mehr Anerkennung in der Schule, in der Stadt, im Bildungsministerium, beim Zentralrat der Juden.
Die Liebe zu der Theaterplastikerin überdauerte die Zeiten nicht, aber heute lebt Holger in einer neuen ost-west-gesamtdeutschen Patchwork-Familie, die trägt und ihn in seiner Arbeit stärkt. Denn Kraft braucht er. Da war und ist der ganz normale Unterricht. In dessen Rahmen organisiert er bis heute Exkursionen nach Berlin. Begegnungen mit Muslimen, Juden, buddhistischen Menschen, um Neues zu lernen und Vorurteilen vorzubauen. Kontakte also, die so in der Uckermark kaum möglich waren und sind. Und es folgte Projekt auf Projekt, gemeinsam mit den Schülern und Mitstreitern konzipiert und umgesetzt.
Gymnasiasten und Förderschüler der Klassen 9 und 10 bauten gemeinsam das ehemalige »Kriegerdenkmal« vor dem alten Pfarrhaus in Petersdorf wieder auf, aber dieses Mal als Friedensdenkmal. So eins hatte es in Brandenburg noch nie gegeben: Ein Rondell mit einer Mosaik-Europakarte, aus der 16 schwarze Steine von Frankreich bis in die ehemalige Sowjetunion hervorstechen. Sie markieren Orte, in denen Petersdorfer Männer im Ersten und Zweiten Weltkrieg starben, kommentiert mit Friedenssprüchen aus der Bibel, von Albert Einstein oder John F. Kennedy: »Die Menschheit muss dem Krieg ein Ende setzen, oder der Krieg setzt der Menschheit ein Ende.«
Dann wurde der ehemalige jüdische Friedhof von Templin wiederhergestellt, mit einer neuen eisernen Umfriedung und neuen Gedenksteinen. Zum ersten Mal nach fast 90 Jahren sang bei der Einweihung wieder ein Kantor. Zum ersten Mal wurde wieder das Kaddisch gebetet. Die Religionsschüler fanden in Archiven die Namen der Verstorbenen und hier Beigesetzten. »Im Jahre 1837 Zander, Alexander; im Jahre 1839 Moses Wolfskohn, im Jahre 1849 Julius Jakob Kohn und Pauline Kohn. Männer, Frauen und Kinder, deren Stein und Name verloren sind. Mögen ihre Seelen eingebunden sein in den Bund des ewigen Lebens«, lasen die Schüler. Es war eine beeindruckende und zutiefst emotionale Zeremonie – für Juden wie für Nichtjuden.
Zuletzt gestalteten die Religionsschüler zusammen mit ihrem Lehrer das alte DDR-Denkmal für die antifaschistischen Widerstandskämpfer in Templin neu. Auf den zwei neuen Rondellen davor wurden ihre Wünsche ins Pflaster eingelassen: Gerechtigkeit, Freiheit, Vielfalt, Würde, Achtung, Respekt, Frieden, Mut, Demokratie. »Wenn ich missionarisch unterwegs war und bin, dann, indem ich versuche, die jungen Leute auf dem Weg dahin zu begleiten, in Toleranz und Respekt miteinander umzugehen und in dieser Gesellschaft als Menschen zu leben, die Minderheiten respektieren und achten«, bekennt Holger.
Aber natürlich war und ist nicht alles eine Erfolgsgeschichte. So geriet die finanzielle Unterstützung seiner Projekte ab und an zur Zitterpartie. Heute erlebt er die Rückkehr der braunen Jahre. Und trotz aller Aufklärung über Rassismus benutzen auch seine Schüler in der 8. Klasse vereinzelt das N-Wort, um Mitschüler zu mobben.
Dennoch ist Holger zuversichtlich. Er erlebt junge Kolleginnen und Kollegen, die die Arbeit mit viel Engagement an ihren Schulen weiterführen. Der für die Gesamtgesellschaft relevante Religionsunterricht habe in Brandenburg eine Zukunft, da ist er sicher. Sein Resümee: »Ich wäre sehr froh, wenn es mir gelungen wäre, Jugendliche zu begleiten auf dem Weg zu bewussten engagierten und offenen Menschen in unserer Gesellschaft. Also wenn es mir gelungen wäre, diese Offenheit zu trainieren. Und sichtbare Zeichen zu setzen für diesen Ansatz einer offenen, einer demokratischen Gesellschaft.«
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