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Brotkrümel für die Menschen in Gaza
Mithu Sanyal über die neue Hilfe in dem durch Israel verwüsteten Küstenstreifen
»Aber schreib’ deine zweite Kolumne nicht wieder über Gaza«, bittet mich meine Freundin Annalena. Okay? »Schreib’ über etwas Unkontroverses, Alltägliches. Wie wäre es mit ... Werbung!«
Also schalte ich pflichtschuldig meinen Laptop an, und der erste Clip, der mir auf Youtube eingespielt wird, ist – ungelogen – eine Werbung des israelischen Außenministeriums. »Wie kann den Menschen in Gaza geholfen werden, ohne dass Hamas davon profitiert?«, fragt eine Frauenstimme, die sich anhört wie KI und die Gaza Humanitarian Foundation anpreist: »Hilfsgüter werden direkt an die Zivilbevölkerung verteilt über gesicherte Zentren in festgelegten Sicherheitszonen.«
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An dieser Aussage stimmen eigentlich nur die Satzzeichen. Weder wird Essen direkt oder irgendwie zu den Menschen gebracht, stattdessen müssen Hungernde viele Kilometer zu den vier – anstatt wie vorher 400 – Ausgabestellen laufen. Bisher gibt es keine Beweise dafür, dass die Hamas bisher Hilfslieferungen gestohlen hätte – und sogar wenn, wäre die Lösung dafür nicht, Essen weiter zu verknappen, sondern Gaza mit Nahrung zu fluten, sodass es sich für die Hamas nicht lohnen würde, sie zu stehlen, weil ja alle genug hätten. Doch vor allem ist die Gaza Humanitarian Foundation nicht humanitär und keine Hilfsorganisation, die von anderen Hilfsorganisationen anerkannt würde.
Mithu Melanie Sanyal ist Schriftstellerin, Journalistin und Kulturwissenschaftlerin, Tochter eines indischen Ingenieurs und einer polnischstämmigen Sekretärin, aufgewachsen in Düsseldorf. In ihren Sachbüchern und Romanen – ihr erster: »Identitti« war ein Riesenerfolg, in ihrem zweiten: »Antichristie« geht es um den bewaffneten Kampf gegen das Empire –, in Hörspielen und Essays verhandelt sie Fragen von Feminismus, Rassismus und sexueller Gewalt. Was Mithu Sanyal veröffentlicht, löst Debatten aus, und zwar ergiebige. Sie wird für uns über alles zwischen Alltag, Politik und Literatur schreiben.
Die Videos im Internet sind verstörend: Tausende von Menschen hinter Gittern, einzelne Pakete, die in die Menge geworfen werden. Die Deutsche Welle hat ausgerechnet, dass es sich um das Äquivalent von vier Reis-Crackern pro Person handelt – Menschen stürzen sich verzweifelt darauf. Und dann wird auf die Hungernden geschossen.
Aber das darf ich nicht sagen. Auch wenn die Toten für sich sprechen. Auch wenn die Kugeln, die aus ihnen herausoperiert werden, dieselben Kugeln sind, die aus Maschinengewehren von israelischen Panzern abgefeuert werden. Auch wenn Augenzeugen berichten, dass israelische Panzer auf sie geschossen haben. Auch wenn die israelischen Streitkräfte inzwischen zugeben, Warnschüsse abgefeuert zu haben. Auch wenn an den anderen Ausgabetagen ebenfalls Menschen erschossen werden. Denn das ist erst bewiesen, wenn westliche Journalisten davon berichten. Und westliche Journalisten dürfen nicht nach Gaza. Also ist es nicht bewiesen.
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Die »Hilfe für die Menschen – nicht für die Hamas«-Werbung wird wiederholt, und ich frage mich, ob es keine Richtlinien gibt, gegen die das verstößt. Ich meine, es ist das gute Recht einer Kriegspartei, sich selbst im besten Licht darzustellen. Schließlich ist Krieg geächtet. Seit 1928, als der Briand-Kellogg-Pakt unterzeichnet wurde. Deshalb führen wir alle nur noch Verteidigungskriege und handeln natürlich aus den hehrsten Motiven. Aber dürfen wir dafür Werbung in anderen Ländern schalten?
Gesetzt den Fall, ich würde meinen Mann ins Schlafzimmer sperren und ihm nach elf Wochen endlich einen Brotkrümel unter der Tür durchschieben – wäre das dann okay, wenn ich einen Film darüber drehe, wie gut ich ihn versorge? Ich frage für eine Freundin. Sie heißt Annalena.
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