- Politik
- Stadtentwicklung
Chemnitz: Stadtteilarbeit als antifaschistisches Projekt
Das Recht auf Stadt-Forum tagte in der Kulturhauptstadt Chemnitz und stellte Fragen nach der Umsetzung von stadtpolitischen Utopien
»Mietenstopp« steht auf der großen Plastikfaust, die am Eingang der »Stadtwirtschaft« platziert wurde. Das Gelände in der Chemnitzer Innenstadt soll zu einem neuen Kultur-Hotspot in der drittgrößten Stadt Sachsen werden. Das könnte in einem Kiez, in dem noch viele Häuser unsaniert sind, zu Aufwertung und Verdrängung von Menschen mit wenig Geld führen. Genau das wollen die 280 Menschen verhindern, die sich von Donnerstag bis Sonntag in ebenjener Stadtwirtschaft zum elften Recht auf Stadt-Forum versammelt haben.
Seit 2015 treffen sich einmal im Jahr wohnungs- und stadtpolitisch Aktive aus ganz Deutschland in einer anderen Stadt, um darüber zu diskutieren, wie das Ziel »Eine Stadt für Alle« umgesetzt werden kann. Dass die Entscheidung 2025 auf Chemnitz fiel, ist einem kleinen Kreis von Aktivist*innen zu verdanken, die sich Bordsteinlobby nennen und sich mit solidarischer Stadtentwicklung befassen.
Octavio und Lisa, die ihre vollständigen Namen nicht in der Zeitung lesen wollen, sind Teil dieser Gruppe. »Wir haben das Treffen seit drei Jahren geplant, weil dieses Jahr Chemnitz Kulturhauptstadt ist«, berichtet Octavio dem »nd«. Das werde vom Stadtmarketing zum Anlass genommen, um möglichst viele Besucher*innen nach Chemnitz zu holen. »Da haben wir uns gedacht: Eine gute Gelegenheit, auch Menschen, die für eine solidarische Stadt kämpfen, einzuladen«, so Octavio.
Die Teilnehmenden diskutierten etwa über die Fortsetzung der Kampagne »Mietendeckel jetzt«, die sich im Vorfeld der Bundestagswahl formierte. Aktivist*innen der Mietgemeinschaft Johannstadt aus Dresden, der Stadtteilorganisierung aus Cottbus und der Stadtteilgewerkschaft Lobeda Solidarisch aus Jena stellten unterschiedliche Formen der Stadtteilarbeit vor – und gleichzeitig zur Diskussion. Auch selbstkritische Töne wurden angeschlagen: Warum waren die über 500 000 wohnungslosen Menschen in Deutschland bisher kein Thema der jährlichen Treffen?
Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.
Die diesjährige Leitfrage lautete: »Wie bauen wir eine Brücke zwischen den Alltagsrealitäten und der Vision einer solidarischen Gesellschaft?« Sie wurde mitunter auf einem Spaziergang zu einigen Chemnitzer Garagenkomplexen besprochen. Die Linke-Bundestagsabgeordnete Katalin Gennburg bezeichnete diese als »Symbole der Reparaturkultur«, die für die Besitzer*innen einen hohen emotionalen Wert hatten, aber nach der Wende massiv unter Druck gerieten: Nachdem der Boden privatisiert wurde, mussten viele Besitzer*innen ihre Garagen auf eigene Kosten abreißen lassen. Dabei gehe es um weit mehr als Autoschrauberei, so Gennburg: Die Garagen seien Treffpunkte für die Nachbarschaft. Ganz anders als der folgende Stopp: ein moderner Garagenpark mit hohen Mieten, der von einer Immobilienfirma betrieben wird.
Gut besucht war auch der Stadtspaziergang auf den Spuren des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU). Die drei Gründer der faschistischen Terrorgruppe lebten zeitweise im Chemnitzer Fritz-Heckert-Kiez. Viele der Teilnehmer*innen betonten, dass die Stadtteilarbeit auch eine Form des Antifaschismus ist. Denn hier wehren sich Menschen gegen die Erzählung, dass man nicht anders kann, als der kapitalistischen Verwertung der Stadt ohnmächtig zuzusehen. Die Parole »Eine Stadt für Alle« ist so auch eine klare Botschaft gegen Ausgrenzen – egal ob sie von Rechtsaußen oder der Parteien der sogenannten Mitte ausgeht.
Andere Zeitungen gehören Millionären. Wir gehören Menschen wie Ihnen.
Die »nd.Genossenschaft« gehört ihren Leser:innen und Autor:innen. Sie sind es, die durch ihren Beitrag unseren Journalismus für alle zugänglich machen: Hinter uns steht kein Medienkonzern, kein großer Anzeigenkunde und auch kein Milliardär.
Dank der Unterstützung unserer Community können wir:
→ unabhängig und kritisch berichten
→ Themen ins Licht rücken, die sonst im Schatten bleiben
→ Stimmen Raum geben, die oft zum Schweigen gebracht werden
→ Desinformation mit Fakten begegnen
→ linke Perspektiven stärken und vertiefen
Mit »Freiwillig zahlen« tragen Sie solidarisch zur Finanzierung unserer Zeitung bei. Damit nd.bleibt.