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»Unser Film wirft moralische Fragen auf«

Mit »Kein Land für Niemand« dokumentieren Maik Lüdemann und Max Ahrens, wie die deutsche Debatte um Migration gekippt ist

  • Interview: Robin Jaspert
  • Lesedauer: 8 Min.
Maik Lüdemann und Max Ahrens drehten auch in einem Flugzeug, das nach Bootsflüchtlingen Ausschau hält. Seit 2014 sind nach UN-Angaben über 18 892 Menschen im Mittelmeer gestorben oder werden vermisst.
Maik Lüdemann und Max Ahrens drehten auch in einem Flugzeug, das nach Bootsflüchtlingen Ausschau hält. Seit 2014 sind nach UN-Angaben über 18 892 Menschen im Mittelmeer gestorben oder werden vermisst.

Bisher haben Sie vor allem Komödien wie »Karacholand« oder Coming-of-Age-Filme wie »Lukas taucht« gemacht. Jetzt eine politische Dokumentation. Warum dieser Umschwung?

Maik Lüdemann: Max und ich haben uns 2014 im Filmstudium kennengelernt, und die beiden Projekte waren unsere ersten Gehversuche. Wir haben parallel dazu auch immer noch andere Projekte gemacht. Ich war 2016 zum Beispiel auf dem Mittelmeer auf dem Seenotrettungsschiff »Minden« und habe einen Dokumentarfilm gedreht. Zu der Zeit wohnten Max und ich zusammen und sprachen viel darüber. 2022 saßen wir zusammen und sagten uns, dass wir einen Film zur Migration machen müssen, weil die Lage sich seit 2016 sehr verschlechtert hatte.‹

Sind Sie zufrieden mit dem Film und dem Format?

ML: Ja. Wir haben beide unsere Begeisterung für Dokus entdeckt.

Max Ahrens: Wir haben viel über das Thema Migration gesprochen. Ich habe mich im Studium damit beschäftigt, deshalb haben wir uns mit der Materie noch tiefer auseinandergesetzt. Es ist schön, dass wir unser Wissen in einem Projekt, das sich sinnvoll anfühlt, anwenden konnten.

Also war es das bei Ihnen mit Komödien?

ML: Ich würde nicht ausschließen, dass wir noch mal was in die Richtung machen. Aber dieses Doku-Projekt ist für uns sinnstiftend, und das erste Feedback bestärkt uns darin weiterzumachen. Es ist erfüllend zu sehen, dass unser Film den Leuten etwas gibt.

Interview

Die beiden Filmemacher Maik Lüdemann und Max Ahrens zeigen in ihrer Doku »Kein Land für Niemand«, wie die berühmten Worte der ehemaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) »Wir schaffen das!« revidiert wurden und eine asylfeindliche Politik immer mehr Gewicht erhielt. Im Gespräch berichten sie, wie es zu diesem Projekt kam, warum sie mit rechten CDU-Politiker*innen redeten und was der Entmenschlichung entgegengesetzt werden kann. Maik Lüdemann ist Regisseur, Kameramann und Geschäftsführer der Filmproduktion Nashorn Filmhaus. Max Ahrens ist freischaffender Kulturwissenschaftler, Autor, Musiker und Regisseur. Beide leben in Hamburg.

Wie kam es denn zu dem Filmprojekt und vor allem dem Bündnis mit den sechs zivilgesellschaftlichen Organisationen Sea-Eye, Sea-Watch, United4Rescue, German Doctors, Pro Asyl und dem Mennonitischen Hilfswerk, die es unterstützen?

ML: Wir gingen 2022 auf Gorden Isler zu, den Vorsitzenden von Sea-Eye, nachdem wir den Entschluss gefasst hatten, einen Film umzusetzen. Ich kannte Gorden von meinem Einsatz auf der »Minden«. Wir hatten die Idee, NGOs dazuzuholen, um mit dem Film ein zivilgesellschaftliches Statement zu setzen. Zunächst arbeiteten wir mit vier Nichtregierungsorganisationen zusammen, später kamen noch zwei weitere hinzu. Wichtig zu sagen ist, dass es kein inhaltliches Mitspracherecht gab. Wir wurden finanziell unterstützt, aber niemand hat uns hineingeredet. Wir haben die Idee vorgestellt, einen großen Bogen von 2015 bis heute zu schlagen und viele Hintergründe zur Migration zu erzählen. Von da an hat man uns gewähren lassen und nur auf Nachfrage mit Kontakten unterstützt.

MA: Es war schön zu bemerken, wie viel Vertrauen uns entgegengebracht wurde. Wir durften dieses Statement setzen, hinter dem sich alle NGOs versammeln, die sich politisch ja durchaus voneinander unterscheiden.

Sie haben sich in dem Film für eine deskriptive Erzählung entschieden und verzichten auf einen moralischen Aufschrei. Relativ nüchtern zeichnet der Film die zunehmend migrationsfeindlicher werdende Stimmung nach. Warum haben Sie sich für dieses Mittel entschieden?

MA: Wir haben viel darüber diskutiert, welchen Ton wir anschlagen. Im Schnitt hat sich dann herausgestellt, dass das Bild, das wir zeichnen, von selbst moralische Fragen aufwirft. Wir gehen davon aus, dass auch das Publikum sich diese Fragen stellt.

ML: Das Ziel war von Anfang an, möglichst viele Menschen mit dem Film zu erreichen und nicht nur eine linke Bubble. Unter dem Gesichtspunkt war es uns wichtig, nicht direkt die moralischen Aspekte auf den Tisch zu legen, weil das auch abschrecken kann; man hätte den Film gleich einordnen und in einer Ecke verorten können.

Sie haben sich dafür entschieden, auch rechte Politiker*innen zu Wort kommen zu lassen. Das ist unter anderem Martina Schweinsburg, ehemalige CDU-Landrätin, die sehr offen mit der AfD zusammenarbeitet und einer der Köpfe hinter der Bezahlkarte ist. Im Film setzt sie Geflüchtete mit Ziegenhirten gleich. Warum haben Sie sich dafür entschieden, auch diesen Stimmen Platz zu geben?

ML: Während unserer Arbeit wurden wir von der politischen Entwicklung überrascht. Diese drastischen Verschärfungen der Asylpolitik hatten wir nicht erwartet. Als es um die Bezahlkarte ging, haben wir uns gefragt, wo das eigentlich herkommt. Dann sind wir sehr schnell bei Frau Schweinsburg gelandet und haben gesagt: »Mit ihr wollen wir sprechen.« Wir wollten herausfinden, was für Menschenbilder bei Leuten vorherrschen, die ein solches Instrument hervorbringen.

MA: Wir haben uns gefragt, wie viel dieser xenophoben Geisteshaltung auch hinter einer gemäßigteren Rhetorik bei den Parteien der Mitte steckt. Diese Unterscheidung zwischen dem »Wir« und den »Anderen« sowie die Abwertungen sind vielleicht impliziter, aber auch dort vorhanden. Es geht eben nicht um Verwaltungserleichterungen, sondern um systematische Ausgrenzungen.

In Ihrem Film spricht Marcel Fratzscher vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) über ökonomische Fragen der Migration. Er betont die wirtschaftliche Notwendigkeit von Einwanderung. Reduziert eine solche Perspektive Geflüchtete auf ihre Arbeitskraft?

MA: Ja. Wenn man diese Frage zuvorderst und als einzige stellt, dann definitiv. Aber wir stellen im Film die Menschenrechtsfrage an erste Stelle. An zweiter Stelle stellen wir dann fest, dass menschenfreundliche Politik nicht irgendwem irgendetwas wegnimmt, sondern den Kuchen größer werden lässt, den es zu verteilen gibt.

ML: Wenn man die vielen Probleme in Deutschland angehen möchte, muss man in Schritten gehen. Zuallererst stellen wir fest: Wir lassen erst mal niemanden ertrinken. Niemand soll sterben, Menschen sollen nicht leiden.

MA: Und dann muss es darum gehen, den Leuten, die hier sind, nicht die Würde zu nehmen. Erst mal muss man das Ankommen begleiten und dafür sorgen, dass die Menschen versorgt sind, ohne Bedingungen zu stellen. Im nächsten Schritt müssen wir den Ankommenden ermöglichen, selbstwirksam zu sein. Die Möglichkeit zur Arbeitsaufnahme kann das beispielsweise sein.

Hätte man vor 15 Jahren angefangen, unbürokratisch Arbeitserlaubnisse an Geflüchtete zu erteilen, dann wäre der Migrationsdiskurs sicherlich ein anderer.

ML: Das ist richtig, ja. Wir haben immer noch ein Arbeitsverbot, wenn Menschen ankommen. Eine Person im Film, Iraj, der in Nordrhein-Westfalen in einer Aufnahmeeinrichtung sitzt, hat nach mehreren Jahren Asylverfahren immer noch keine Arbeitserlaubnis. Ihm geht es wirklich sehr schlecht. Menschen brauchen etwas zu tun, brauchen einen Ort, an dem sie mit anderen Menschen in Kontakt kommen, und das passiert oft bei der Arbeit.

Was ist die Botschaft Ihres Filmes?

ML: Wir wünschen uns, dass die Debatte um Migration vielschichtiger und komplexer geführt wird. Der Filmkritiker Wolfgang M. Schmitt hat mal gesagt: »Im Journalismus ist immer Tag eins.« Wenn es um Migration geht, fangen wir jeden Tag bei null an. Man kann den Zuschauern und dem Publikum deutlich mehr zutrauen. Deshalb sollten wir beginnen, die Zusammenhänge differenzierter zu besprechen. Wir müssen wissenschaftlich fundierter diskutieren. Das fehlt oft. Außerdem möchten wir den Menschen nahelegen, ihr Herz wieder zu öffnen. Das klingt ein bisschen kitschig. Letztlich müssen wir aber mehr nach links und rechts schauen. Gesellschaften verändern sich, Menschen kommen hinzu, Menschen gehen. Das ist ganz normal.

MA: Wir wünschen uns, dass man nüchterner, realistischer auf das Thema guckt und zugleich die Menschlichkeit und das Emotionale an sich heranlässt.

Was haben die dreieinhalb Jahre Dreharbeiten bei Ihnen ausgelöst?

ML: Wir sind auf der einen Seite ein bisschen abgestumpfter, was einige Themen angeht, und gleichzeitig sind wir viel empathischer geworden. Es ist eine Dualität aus beidem.

MA: Als wir dieses Projekt angefangen haben, wussten wir nicht, worauf wir uns einlassen. Wir haben gedacht: Wir kennen uns ganz gut mit dem Thema aus, wir haben viel darüber gesprochen, wir haben unsere Kritik an den Medien, wir haben eine eigene Idee. Was es dann aber tatsächlich mit einem macht, dieses Thema über drei Jahre so intensiv zu behandeln und in einen Film umzusetzen, hätten wir nicht gedacht. Auf jeden Fall sind wir erwachsener geworden.

Was Lösungen angeht, hält sich der Film eher bedeckt. Was braucht es denn, um dem entmenschlichten Diskurs in Deutschland etwas entgegenzusetzen?

MA: Wir sind keine Migrationsexperten, aber haben zwei wichtige Aspekte: Ein wichtiges Stichwort hat die Ökonomin Isabella Weber genannt: antifaschistische Wirtschaftspolitik. Es ist nötig, eine Politik zu machen, die Lebensstandards für alle verbessert, eine Lebensgrundlage gewährleistet und Armut verhindert. Das scheint mir die einzige Lösung zu sein, wenn man diese Demokratie am Leben erhalten will.

Der andere Aspekt ist, dass wir ein Umdenken in den Medien brauchen. Im Fernsehen haben rechte bis rechtsextreme Positionen in der Migrationsdebatte enormen Einfluss. Man könnte dieses Thema auch ganz anders besprechen, mit viel mehr Ruhe und weniger Schaum vor dem Mund. Es gibt ein Bedürfnis, Lösungen zu finden, die allen zugutekommen. Medien müssen sich wieder mehr trauen, Haltung zeigen und menschenrechtsorientierte, universalistische Positionen einnehmen.

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