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Wie Frankreich rechts wurde
Ein Schlüsselroman von Aurélien Bellanger erzählt den Aufstieg der Rechten inmitten der Sozialistischen Partei Frankreichs
Aurélien Bellangers Roman »Die letzten Tage der Linken« schildert einen höchst fragwürdigen Versuch, in Frankreich den Parti socialiste (PS) vor dem Untergang zu retten. Ein skrupelloser Aufsteiger namens Grémond will den Sozialdemokraten mithilfe zweier Fernsehphilosophen, Frayère und Taillevent, ein zugleich islamophobes und staatstragendes Profil verpassen. Bevor die Partei in der Bedeutungslosigkeit verschwindet, gründet er die überparteiliche »Bewegung des 9. Dezember« – in der Erinnerung an das Gesetz vom 9.12.1905, das die Trennung von Kirche und Staat (Laizismus) vorsieht.
Grémond und seine Spießgesellen bedienen die Stimmung im liberalen Bürgertum, das sich über die Rechts-links-Unterscheidung erhaben fühlt, die soziale Agenda für überholt hält und sich mit der Rechten auf einen gemeinsamen Gegner geeinigt hat: den Muslim.
Ein Roman ist keine soziologische Untersuchung, aber er kann abstrakte Entwicklungen in konkrete Figuren übersetzen – sehr konkrete in diesem Fall, denn alle Protagonisten Bellangers haben Vorbilder: Das Modell für Grémond ist der Aufsteiger Laurent Bouvet (1968–2021); mit den »Aposteln der Angst« Taillevent und Frayère sind die Star-Intellektuellen Raphaël Enthoven und Michel Onfray gemeint. Diese beiden wiederum berufen sich auf den rechten Denker Cormier, der in Wahrheit Clément Rosset (1939–2018) hieß und eine Art französischer Peter Sloterdijk war: Er ließ die alten Kyniker und den gesunden Menschenverstand hochleben, während ihm French Theory und Marxismus nichts als Scharlatanerie waren.
Die im Buch breit dargestellten philosophischen Debatten müssten in unserem bäurischen Deutschland skurril wirken. Aber mit dem Auftritt von Revêche befinden wir uns wieder in vertrauten Gewässern. Revêche alias Philippe Val war der Redaktionsleiter des Satiremagazins »Charlie Hebdo«, der es für seine patriotische Pflicht hielt, die Mohammed-Karikaturen zu drucken. Präsident Nicolas Sarkozy, der die Banlieues mit dem Kärcher-Hochdruckreiniger säubern wollte, ernannte ihn 2009 zum Chef des Radiosenders France Inter.
Nur mehr sein geharnischter Antiklerikalismus zeugt noch von Revêches radikalen Anfängen, ansonsten diffamiert er die reale Linke als antisemitisch und fordert die bedingungslose Unterstützung Israels und der USA. Obwohl sie das geworden sind, was man gewöhnlich »neokonservativ« nennt, halten er und seine Gesinnungsgenossen sich für die »echte Linke«.
Als Revêche zum Abendessen lädt, lernen sich Grémond und die beiden Fernsehphilosophen kennen. Während sich alle am Hummer und am vernünftigen Geist des Vaterlands laben und »Charlie Hebdo« zur Kathedrale des Atheismus hochstilisieren, hat ein Gast Magenschmerzen: Charb, der neue Redaktionsleiter, der zu bedenken gibt, es bestehe doch ein Unterschied darin, ob man die vorherrschende Religion oder die einer Minderheit angreift. Die andern lachen ihn aus.
Kurz später werden Charb und fast die gesamte Redaktion von Islamisten abgeschlachtet. Grémond, der diesen und ähnliche Anschläge für »Glücksfälle« hält, sieht seine Stunde gekommen. Revêche, die beiden philosophischen Dreckschleudern und Grémond selbst verdrießt es zwar, dass die Überlebenden von »Charlie Hebdo« mit Reaktionären wie ihnen nichts zu tun haben wollen. Aber längst gehen sie im Élysée-Palast ein und aus. Grémond unterstützt die »außergewöhnlichen Maßnahmen« seines Präsidenten François Hollande und eifert gegen die Linken als »Verräter an ihrem eigenen Land, die mit ihrer hirnlosen Multikulti-Toleranz und ihrer blödsinnigen Kolonialismuskritik unsere Gesellschaft spalten«.
Die Bewegung des 9. Dezember (tatsächlich: »Printemps républicain«, republikanischer Frühling), die Grémond ins Leben ruft, soll mehr sein als ein Thinktank oder eine Partei, sie erinnert an den »Kult des höchsten Wesens« der Französischen Revolution – eine Kirche der Laizisten. Kaum ist sie gegründet, sendet sie ihre Bannflüche aus gegen alle, die nicht »Je suis Charlie« skandieren. Während Taillevent lehrt, die muslimische Welt sei nur dank des Kolonialismus aufgeklärt worden, und Frayère von laizistischen Standgerichten träumt, erklärt Grémond dem Islam den Krieg.
Haben sie den Aufstieg des »authentischsten Laizisten von allen« begünstigt, jenes Technokraten, der im Roman nur »der Kanoniker« (Domherr) heißt – Emmanuel Macron? Vielleicht. Jedenfalls freut es den Macron des Romans, in Grémond, der sich inzwischen für autoritäre Regimes begeistert, einen »unvergleichlichen Verschwörer« zu finden.
Bellanger persifliert sich selbst als der kryptokatholische Schriftsteller Sauveterre (wörtlich »Rette das Land«), den es kalt erwischt, als Frayère ihn als »Islam-Linken« beschimpft. In diesem Moment erkennt Sauveterre, dass die »ganze Laizismus-Geschichte von Anfang an ein Vorwand« für »etwas obskur Faschistisches« war. Nachdem er einen Roman zum Thema geschrieben hat, wird er von einem Polizisten erschossen, der ihn wegen seines Bartes mit einem islamistischen Terroristen verwechselt.
Aurélien Bellanger demonstriert anhand der auch bei uns sattsam bekannten Propaganda, dass der Rechtsruck keineswegs allein auf Familie Le Pen und ein deprimiertes Proletariat zurückgeht. Wohlsituierte Bürger, die von Halblinken in Liberale und dann in Neokonservative mutiert sind, haben wenigstens ebenso viel zum neuen Chauvinismus beigetragen.
Das Buch hat den üblichen Makel des Gedankenromans: Die Dialoge lesen sich wie aus länglichen Traktaten montiert. Theoretische Präzision geht auf Kosten von Schwung. Aber trockenen Witz hat das Ganze und für Heiterkeit sorgen die Kalauer des geistreichelnden Grémond. Einer zielt auf den Linken Jean-Luc Mélenchon, dessen Name im Französischen klingt wie »Rühren wir’s zusammen« (»mélangeons«). Der Übersetzer, Frank Weigand, findet dafür die hübsche Lösung »Mélenschaun wir mal«. Ja, schau’n wir mal, wie es weitergeht mit den vaterländischen Opportunisten. Werden sie nun alle faschistisch?
Aurélien Bellanger: Die letzten Tage der Linken. Roman. A. d. Franz. v. Frank Weigand. Claassen, 460 S., br., 28 €.
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