Aufstand gegen Merkel in Griechenland

Vor zehn Jahren begehrte Griechenland vergeblich gegen das deutsche Spardiktat auf – ohne Erfolg. Das ist noch heute zu spüren

  • John Malamatinas
  • Lesedauer: 5 Min.
»Oxi« heißt »Nein«: Demonstranten in Athen am 3. Juli 2015, kurz vor dem griechischen Referendum zu den Sparauflagen.
»Oxi« heißt »Nein«: Demonstranten in Athen am 3. Juli 2015, kurz vor dem griechischen Referendum zu den Sparauflagen.

Es ist kein Zufall, dass Angela Merkel ihre Memoiren gerade jetzt in Griechenland vorstellt – im Rahmen einer Veranstaltung der Tageszeitung Kathimerini. Zehn Jahre ist es her, seit die griechische Bevölkerung am 5. Juli 2015 im Referendum mit einem klaren »Oxi« (»Nein«) auf die Sparsamkeitsdiktate der Gläubiger antwortete – trotz der Drohung eines Grexit, also eines Euro-Austritts Griechenlands. Die Konfrontation mit Griechenlands Geldgebern, vor allem Deutschland, erreichte damit einen Höhepunkt. Am Ende gewann die Bundesregierung.

2010 wendeten die EU-Staaten Griechenlands Pleite durch Hilfskredite ab und forderten dafür massive Sparauflagen. Nach vier Jahren Rentenkürzungen, Massenentlassungen, Sozialabbau und Austeritätspolitik lag die griechische Wirtschaftsleistung ein Viertel niedriger als noch 2009. Die Protestwelle brachte 2015 das linke Syriza-Bündnis an die Macht, dass von den Gläubigern – vor allem Deutschland – eine Abschwächung der Sparauflagen forderte. Vergeblich. Der damalige linke Premierminister Alexis Tsipras entschied sich angesichts des immensen Drucks für einen Befreiungsschlag: Die Bevölkerung sollte selbst darüber entscheiden, ob die Sparforderungen der Gläubiger weiter umgesetzt werden sollten. Ein Referendum mitten im Krisenprogramm – das war ein Tabubruch.

Drohung mit dem Euro-Rausschmiss

Die Initiative überraschte auch Bundeskanzlerin Angela Merkel, denn diese Form direkter Demokratie galt als Risiko für die Stabilität der Eurozone. Merkel sah im Referendum ein gefährliches Spiel. Als Tsipras ihr in einem Telefonat auf die Frage, welche Empfehlung er bei dem Referendum abgeben werde, mit »Natürlich Nein« antwortete, verschlug es ihr die Sprache. Merkel sagte später, sie habe verstanden, dass Tsipras so den Eindruck erwecken wollte, er habe alles versucht, bevor er einknickte. Denn klar war: In Berlin wartete Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble – mit dem Grexit-Szenario in der Schublade, also einem Rausschmiss aus der Eurozone.

Was folgte, ist bekannt: Tsipras verwandelte das »Oxi« der Bevölkerung in ein »Nai« (Ja) der Politik – und es folgten weitere Jahre sozialen Kahlschlags. Zehntausende junge Menschen verließen das Land und staatlicher Besitz wurde zu Spottpreisen privatisiert. 2019 löste der rechtskonservative Kyriakos Mitsotakis Tsipras als Premierminister ab. Laut Mitsotakis erlebte das Land zwischen 2019 und 2023 einen rasanten Wandel: Die Arbeitslosigkeit sank, das Wirtschaftswachstum zog nach der Pandemie an, Griechenland gewann das Vertrauen der Märkte zurück. 2023 gewann Mitsotakis mit der Erzählung von der »Erfolgsstory« erneut die Wahlen.

Tatsächlich liegt laut IWF das durchschnittliche Wirtschaftswachstum seit 2018 bei etwa zwei Prozent, die Arbeitslosenquote sank von 27,5 Prozent im Jahr 2014 auf heute 9,4 Prozent. Die griechische Wirtschaft hat sich also nach kapitalistischen Maßstäben erholt – auch die Staatsverschuldung konnte reduziert werden. Doch erstens relativiert sich dieser Erfolg angesichts der Tatsache, dass die Wirtschaftleistung Griechenlands real noch immer 22 Prozent unter dem Stand von 2008 liegt. Zweitens basieren die »Erfolge« der vergangenen Jahre auf der Vorarbeit der Regierung Tsipras, die die härtesten Reformen umsetzte: Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, Steuererhöhungen und Rentenkürzungen. Der Rückgang der Arbeitslosigkeit wurde durch drastische Lohnsenkungen, Abbau des Kündigungsschutzes und Einsatz schlecht bezahlter Praktika erkauft. Obwohl der Mindestlohn zuletzt gestiegen ist, liegt die reale Kaufkraft – bedingt durch Inflation und hohe Lebenshaltungskosten – auf dem Niveau vor dem Schuldendiktat.

Alexis Tsipras machte zuletzt in einer Rede auf den Wiederanstieg der Armut aufmerksam: »Wir haben den Anteil der Haushalte unterhalb der Armutsgrenze 2015 bei 21,4 Prozent übernommen und 2019 bei 17,9 Prozent abgegeben […] Im Gegensatz dazu hat die Regierung Mitsotakis, die alles vorgefunden hat, was sie brauchte, außerhalb der Memoranden und unter Bedingungen wirtschaftlicher Lockerung, den Anteil der Armut von 17,9 Prozent auf 19,6 Prozent im Jahr 2024 erhöht.«

Die dunkle Seite des Aufschwungs

Während sich die makroökonomischen Kennzahlen verbessern, verschärft sich die soziale Kluft. Mieten haben sich verdoppelt, bezahlbarer Wohnraum fehlt. Gleichzeitig schreitet die Privatisierung im Gesundheits- und Bildungsbereich weiter voran, das öffentliche System ist chronisch unterfinanziert.

Merkel brachte bei der Veranstaltung die Lage selbst auf den Punkt: »Ich freue mich, dass ihr in Griechenland die Krise überwunden habt und vorankommt«, sagte sie – und fügte mit Blick auf den boomenden Tourismus hinzu: »Aber in den Städten gibt es junge Menschen, die den rasanten Anstieg der Kurzzeitvermietungen beobachten und sich fragen: ‚Was wird aus uns?‘« Die Löhne müssten steigen, betonte sie.

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Linke Ökonomen sind sich zwar in der Analyse der Zustände einig, unterscheiden sich aber in der Bewertung (verpasster) Auswege. Costas Lapavitsas, ehemaliger Syriza-EU-Abgeordneter, war stets Befürworter eines Euro-Austritts Griechenlands. Yannis Varoufakis versuchte als Finanzminister, innerhalb des Euroraums mit den Gläubigern zu verhandeln und eine Umschuldung zu erreichen – kritisiert aber bis heute die mangelnde Vorbereitung der Tsipras-Regierung auf Alternativen. Sein Nachfolger, Efklidis Tsakalotos, setzte auf ein Reformprogramm von innen, das zumindest begrenzte soziale Errungenschaften sichern sollte – trotz Warnungen, dass der Spielraum dafür gering war. Einig sind sich alle: Griechenland ist ein neoliberales Krisenlabor – und ein Warnsignal für alle, die glauben, soziale Gerechtigkeit lasse sich innerhalb der bestehenden EU-Strukturen einfach durchsetzen.

Die Regierung Mitsotakis schlägt sich bislang durch eine Serie von Krisen: Überwachung von Journalisten und Politikern, ein marodes Bahnsystem, das zu einer Zugkatastrophe mit 57 Toten führte, eine unterfinanzierte Feuerwehr oder zuletzt ein Skandal um EU-Agrarsubventionen. Doch die fragmentierte Opposition kann daraus bisher keinen Nutzen ziehen: Die einstige linke Hoffnung Europas, Syriza, ist heute in fünf Parteien zersplittert. Es liegt daher einmal mehr an den Menschen von unten, Druck aufzubauen – wie am 28. Februar, als über eine Million Menschen an die Versäumnisse der Regierung im Zusammenhang mit der Zugkatastrophe erinnerten. Ob diese Wut sich politisch artikulieren kann? Eine Rückkehr von Alexis Tsipras ist dabei nicht mehr ausgeschlossen.

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