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Die Linke: Sehnsuchtsort Berlin

Die Hauptstadt-Linke 15 Monate vor der Abgeordneten­haus­wahl

  • Andreas Fritsche
  • Lesedauer: 6 Min.
Die Doppelspitze der Berliner Linksfraktion: Anne Helm und Tobias Schulze
Die Doppelspitze der Berliner Linksfraktion: Anne Helm und Tobias Schulze

Berlin ist eine Stadt baufälliger Brücken, in der die Parkraumbewirtschaftung drei Monate zurückhängt mit dem Ausstellen von Anwohnervignetten und in der ein Termin beim Bürgeramt nicht innerhalb von 14 Tagen zu bekommen ist. Anderswo in Deutschland ist ein Termin oft überhaupt nicht erforderlich. In Berlin gibt es einzelne gute Schulen und viele schlechte. Wohnungen sind knapp, die Mieten hoch.

Dabei könnte die Hauptstadt »ein Zufluchts- und Sehnsuchtsort« sein, ein Gegenmodell zu einer nationalkonservativen Wende, die sich mit Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) abzeichne. Davon sind die Berliner Linksfraktionschefs Anne Helm und Tobias Schulze überzeugt. Beide haben für eine Klausur ihrer Abgeordnetenhausfraktion aufgeschrieben, wie Berlin eine »rote Metropole« und »Stadt der Hoffnung« werden könnte. Sie notierten: »Wenn Merz mit ›Kreuzberg ist nicht Deutschland‹ das antiurbane Ressentiment der 1920er Jahre aufwärmt, dann wissen die Menschen hier, dass man in Kreuzberg sehr gut feiern, demonstrieren und leben kann.« Dass Berlin seit den 2000er Jahren aufblühte, habe auch an damals bezahlbaren Wohnungen sowie Räumen für Ateliers, Klubs und Gewerbe gelegen. Dies lasse sich so nicht zurückholen. Es sei auch nicht alles rosig gewesen.

Die beiden Fraktionschefs entwickeln mit den anderen Abgeordneten Ideen für die Zukunft und haben eine Vision, wie es sein sollte und werden könnte. Während es Gerüchte gibt, die in Frankfurt (Oder) geborene Wirtschaftssenatorin Franziska Giffey (SPD) könnte nach Brandenburg zurückkehren und dort die Nachfolgerin von Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) werden, haben die Abgeordneten der Berliner Linken gleich zwei Landesgrenzen überquert. Sie treffen sich am Freitag und Samstag zur Klausur im Dorint-Hotel in Leipzig. Von 20 Abgeordneten sind 19 dort. Fraktionschefin Anne Helm ist krank geworden und fehlt.

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Darum stellte Tobias Schulze das gemeinsame Papier allein vor, wie er dem »nd« sagt. Knapp 15 Monate vor der Abgeordnetenhauswahl gehe es darum, wie die Fraktion bis September 2026 agiert. »Wir müssen auf Augenhöhe mit Kai Wegner kommen«, findet Schulze. Denn der Regierende Bürgermeister Wegner trage die politische Verantwortung für den Haushalt und geplante Kürzungen. Mit diesem CDU-Politiker müsse die Linksfraktion die Auseinandersetzung suchen, während dessen Koalition aus CDU und SPD ein Meister darin sei, die Verantwortung von sich zu weisen und auf andere abzuschieben.

Die Frage, wer bei der Abgeordnetenhauswahl 2026 Spitzenkandidat der Linken werden solle, werde bei der Klausur in Leipzig nicht geklärt, sagt Schulze gleich am Freitag. Aber eins sei klar: Anders als bei SPD und Grünen sei mit der Auswahl des Spitzenkandidaten keine Richtungsentscheidung verbunden. Die Richtung sei bei der Linken bereits klar, über die Richtung sei sich die Partei einig. Es gehe nur darum, welche Person diese Richtung am besten verkörpere. Im Moment beginne in den Wahlkreisen die Personalfindung anzulaufen, berichtet Schulze. Er selbst sitzt seit 2016 im Abgeordnetenhaus und möchte nächstes Jahr erneut kandidieren.

Seit 2023 ist Kai Wegner Regierender Bürgermeister von Berlin. Er hat vorher viel versprochen und dann wenig zuwege gebracht. Das Denkmal seiner Koalition werde der zwei Millionen Euro teure Zaun um den Görlitzer Park werden, »der Frauen davor schützen soll, sich nachts im Park unsicher zu fühlen, indem er sie aus dem Park ausschließt«, merken Helm und Schulze in ihrem Papier an. Sie versprechen ihrerseits: »Wir verzichten auf Prestigeprojekte und Symbolpolitik: Eine Stadt, in der kein Geld da ist, Schwimmbäder zu heizen, kann sich Olympia nicht leisten.« Sie schreiben auch: »Berlin braucht keine neuen U-Bahnstrecken, sondern funktionierende. Berlin braucht keine neuen Autobahnen, sondern die Sanierung von Straßen und Brücken.«

Kürzungen ließen sich vermeiden, wenn alle Einnahmemöglichkeiten ausgeschöpft würden, meint Tobias Schulze. Die Linksfraktion lade Kulturstätten, Sozialverbände, Gewerkschaften und Hochschulen zu einem dritten Haushaltsgipfel am 4. September ein, um gemeinsam Strategien für den Doppelhaushalt 2026/27 zu erarbeiten. Für Schulze verblüffend: Die Kulturszene, die Sozialverbände und die Wissenschaft kommen gern zur Opposition, obwohl es doch üblich ist und normalerweise vielversprechender wäre, sich an die Koalition zu halten. Doch die berate sich ja nicht mit ihnen.

So hatte die Linksfraktion jetzt Martin Hoyer vom Berliner Paritätischen Wohlfahrtsverband nach Leipzig eingeladen, um sich von ihm berichten zu lassen, wie es um die Jugendarbeit bestellt ist. Kinderarmut ist in der Hauptstadt ein großes Problem. Ende 2024 lebten dort 23,2 Prozent der Minderjährigen in Familien, die ganz oder teilweise auf Stütze angewiesen waren. Im Bezirk Neukölln waren sogar 34,7 Prozent der Kinder und Jugendlichen betroffen, in Mitte 32,9 Prozent und in Spandau 31,7 Prozent. Etwa 13 000 Berliner Kinder wohnen mit ihren Familien in Obdachlosenheimen.

In einem Bildungssystem, das solche Kinder benachteiligt, haben sie nur geringe Chancen, einen guten Schulabschluss zu erwerben, einen anspruchsvollen Beruf zu erlernen, um es später einfacher zu haben. Besser sind ihre Aussichten an Gemeinschaftsschulen. Dort gehen die leistungsstarken Schüler nicht nach der 4. und der 6. Klasse an die Gymnasien ab, sondern alle lernen von der 1. bis zur 10. Klasse gemeinsam und profitieren davon. Doch es gibt in Berlin lediglich 26 Gemeinschaftsschulen. Die Linke schlägt vor, dass es bis 2031 in jedem der zwölf Berliner Bezirke mindestens zwei neue Gemeinschaftsschulen geben soll.

»Eine Stadt, in der kein Geld da ist, Schwimmbäder zu heizen, kann sich Olympia nicht leisten.«

Tobias Schulze Linksfraktionschef

Auf der Tagesordnung stand im Dorint-Hotel unter anderem auch der Hitzeschutz. Da es in Großstädten 10 bis 15 Grad wärmer sein kann als in deren Umland, sind im Sommer extreme Temperaturen von mehr als 35 oder über 40 Grad Celsius möglich. Von 2018 bis 2024 habe es in Berlin schon 1425 Hitzetote gegeben. Wegen dieser Auswirkung des schnell voranschreitenden Klimawandels verlangen die Sozialisten, Berlin solle spätestens im Jahr 2040 klimaneutral sein und nicht erst 2045. Davon abgesehen müsse es kühle Orte in jedem Kiez geben: Bibliotheken und Nachbarschaftszentren etwa, die bei Hitzewellen geöffnet sind.

Die Linke schließt nicht aus, nach der Wahl 2026 wieder mitzuregieren, wie sie es in Berlin bereits von 2002 bis 2011 und von 2016 bis 2023 getan hat. Zunächst einmal wolle die Partei 2026 stärkste Kraft werden, sagt Tobias Schulze. Das ist der Berliner Linken bei einer Abgeordnetenhauswahl noch nie gelungen. Doch die Bundestagswahl im Februar 2025 konnte sie mit 19,9 Prozent der Stimmen gewinnen. In der jüngsten Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Infratest dimap stand der Landesverband im Juni mit immer noch 19 Prozent auf Platz zwei – sechs Prozentpunkte hinter Kai Wegners CDU.

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