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Union brüskiert Parlament und Verfassungsgericht
CDU/CSU-Fraktion bricht Absprachen. Bundestag setzt Wahl von Richter*innen für das Bundesverfassungsgericht von der Tagesordnung ab
Es war abzusehen, dass die Wahlen von drei neuen Richter*innen für das Bundesverfassungsgericht an diesem Freitag kontrovers wird. Allerdings nicht, dass sie in einem Debakel enden und gar nicht stattfinden würde.
Noch am Montag stimmte der Wahlausschuss des Bundestags mit der erforderlichen Zweidrittel-Mehrheit für den von der Union vorgeschlagenen Bundesarbeitsrichter Günter Spinner und die beiden von der SPD vorgeschlagenen Juraprofessorinnen Frauke Brosius-Gersdorf und Ann-Katrin Kaufhold als neue Richter*innen am Bundesverfassungsgericht. Danach schien vor allem fraglich, mit welchen Mehrheiten sie im Bundestag gewählt werden. Die AfD hatte ihre Unterstützung für den Unionskandidaten erklärt, Die Linke ihre für die SPD-Bewerberinnen. Debatten über die mögliche Zweidrittel-Mehrheit von Schwarz-Rot mit der AfD begannen. Im Umfeld der Linken wurde darüber diskutiert, ob Die Linke Spinner nicht mitwählen solle, um die AfD überflüssig zu machen.
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Die Debatten erwiesen sich als obsolet, weil es gleichzeitig in der Union zu brodeln begannen. Gegen Frauke Brosius-Gersdorf lief schon seit Längerem eine Kampagne aus der christlich-fundamentalistischen »Lebensschutz«-Szene. Rechte Medien wie Julian Reichelts »Nius« gaben der Kampagne Reichweite und spitzten sie zu. Brosius-Gersdorf, eine liberale Juristin, wurde als abtreibungswilde, linke Aktivistin dargestellt. Bei der Regierungsbefragung am Mittwoch fragte die AfD-Politikerin Beatrix von Storch den Bundeskanzler, ob er es mit seinem Gewissen vereinbaren könne, eine Juristin zu wählen, »die einem neun Monate alten Baby zwei Minuten vor der Geburt die Menschenwürde abspreche«. Merz antwortete mit »Ja.« Rechte und christlich-fundamentalistische Medien, Politiker*innen und Medienfiguren stürzten sich auf den Dialog, stilisierten ihn zum Bruch von Merz mit christlich geprägter Politik.
Der Aufschrei verfing, bei Unionsfraktionschef Jens Spahn meldeten sich immer mehr Abgeordnete, die Frauke Brosius-Gersdorf nicht mehr wählen wollten. Die Zahl der Abweichler, die Medien melden, schwankt zwischen 30 und 60. Am Donnerstagabend meldete sich dann auch noch der mehr als dubiose »Plagiatsjäger« Stefan Weber über die Plattform X zu Wort. In einem Beitrag legte er nahe, dass Brosius-Gersdorf bei ihrer Dissertation von der Habilitation ihres Mannes abgeschrieben hat. Das die Schrift von Brosius-Gersdorfs Mann erst später erschien als ihre Dissertation, erwähnte der wegen übler Nachrede verurteilte »Plagiatsjäger« nicht. Für die Union reichten die vagen Vorwürfe allerdings. Am Freitagmorgen teilten Jens Spahn und Friedrich Merz der SPD mit, dass sie die Wahl von Brosius-Gersdorf von der Tagesordnung streichen wollen. Die Sozialdemokrat*innen waren konsterniert, Fraktionssitzungen folgten.
Im Anschluss beantragten SPD und Union, alle drei Richter*innenwahlen von der Tagesordnung zu streichen. In einer kurzen Geschäftsordnungsdebatte fand dann auch der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion, Dirk Wiese, klare Worte. Er sprach von einer Beschädigung des Bundesverfassungsgerichts und einer Hetzjagd gegen eine angesehene Juristin. Seine Koalitionskolleg*innen von CDU und CSU erinnerte er daran, dass die SPD bei schwierigen Beschlüssen »gestanden« habe. »Ich erwarte zukünftig, dass bei solchen schwierigen Entscheidungen auch andere stehen.«
Britta Hasselmann, Fraktionschefin der Grünen, äußerte sich ähnlich: »Einen solchen Vorgang wie diesen, ein solches Desaster hat es in der Geschichte der Wahlen zum Bundesverfassungsgericht in diesem hohen Haus noch nie gegeben. Und die Verantwortung dafür tragen in allererster Linie Sie, Jens Spahn.« Ebenso die Fraktionsvorsitzende der Linken Heidi Reichinnek. Sie warf der Union vor, Frauke Brosius-Gersdorf den Rechten »zum Fraß vorgeworfen« zu haben. Der Umgang mit der Juristin sei ein »absoluter Skandal«. Reichinneks Fazit: »Immer, wenn man denkt, die Union kann nicht mehr tiefer sinken, kommen Sie, Herr Spahn, und packen Ihre Schaufel aus.«
Für die CDU/CSU-Fraktion beteiligte sich der parlamentarische Geschäftsführer Steffen Bilger sich an der Debatte. Er erklärte, die Diskussion über Frauke Brosius-Gersdorf sei aus dem Ruder gelaufen. Es sei gut, wenn man jetzt Zweifel klären könne. Am Freitagnachmittag erklärte Bundestagspräsidentin Julia Klöckner, dass die Wahl der Richter in der ersten Woche nach den Parlamentssommerferien im September nachgeholt werde. Mit welchen Kandidat*innen, bleibt zunächst offen.
Zahlreiche Jurist*innen und Vereinigungen von Jurist*innen äußerten sich am Freitag besorgt. Der Deutscher Juristinnenbund, die Neue Richter*innenvereinigung und der Deutscher Frauenrat erklärten in einem gemeinsamen Statement, dass die Kampagne gegen Frauke Brosius-Gersdorf demokratische Abläufe schwer beschädige. Die Organisationen warnen davor, aufgrund nicht bewiesener Vorwürfe von der Kandidatin für das Richteramt abzurücken. »Wenn politische Akteure Kandidatinnen nach Abschluss von Einigungsprozessen und ohne stichhaltige Belege in letzter Minute aus dem Verfahren drängen, untergräbt dies das Vertrauen in die Stabilität und Neutralität unserer Verfassungsorgane«, kritisieren die drei Organisationen die Unionsfraktion scharf.
Bijan Moini, Legal Director bei der Gesellschaft für Freiheitsrechte, sieht die Union als Gefahr für die Demokratie. »Wenn sie sich nicht in den Griff bekommt – den menschenfeindlichen Populismus, die kulturkämpferische Rage, die systematischen Unwahrheiten, den Opportunismus, die fehlende Rechenschaft –, sehe ich schwarz«, schreibt er auf der Plattform Bluesky. Ebenfalls dort äußert Maximilian Pichl, Vorsitzender der Vereinigung Demokratischer Jurist*innen, eine in die Zukunft gerichtete Sorge: »Wer unter den liberalen Juristinnen wird sich noch für Wahlen zum Bundesverfassungsgericht aufstellen lassen, wenn diese Sache jetzt so läuft. Die Kollateralschäden für die Justiz sind immens.«
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