Tausende Geflüchtete erreichen Kreta aus Ostlibyen

Mehr als 10 000 Menschen kamen seit Jahresbeginn über das Mittelmeer nach Griechenland

Migrant*innen, die südlich von Kreta gerettet wurden, gehen im Hafen von Lavrio an Land.
Migrant*innen, die südlich von Kreta gerettet wurden, gehen im Hafen von Lavrio an Land.

Die Zahl der Geflüchteten, die von der Küste Ostlibyens nach Griechenland gelangen, ist in den vergangenen Monaten sehr stark gestiegen. Seit Anfang des Jahres haben nach Regierungsangaben rund 10 000 Menschen die Überfahrt geschafft – ein Anstieg um 350 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Die in Griechenland tätige Hilfsorganisation Refugee Support Aegean kommt auf etwas andere Zahlen und hat im ersten Halbjahr 7336 Ankünfte auf der Insel Kreta und der Nachbarinsel Gavdos registriert.

Anders als die seit Jahren viel frequentierte Route über Westlibyen in Richtung Italien legen Boote oder kleinere Schiffe mit Migrant*innen nun häufig in der ostlibyschen Hafenstadt Tobruk ab. Anschließend steuern sie die Südküste Kretas an. Für die rund 300 Kilometer lange Überfahrt verlangen kommerzielle Fluchthelfer nach Aussagen von Geflüchteten zwischen 1500 und 5000 Euro. Vergleichsweise viele der Ankommenden sind Familien, alleinreisende Frauen oder unbegleitete Minderjährige.

Die konservative griechische Regierung hat nun beschlossen, Asylanträge von Menschen, die über diese neue Route kommen, vorübergehend nicht mehr zu bearbeiten. Das Parlament stimmte vergangene Woche nach zweitägiger Debatte einer entsprechenden Gesetzesänderung zu: 177 Abgeordnete votierten dafür, 74 dagegen. Die Maßnahme soll zunächst für drei Monate gelten. Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis sagte während der Debatte: »Der Weg nach Griechenland wird geschlossen – das ist die Botschaft an die Schleuser.«

Ankommende Geflüchtete sollen nach dem Willen der Regierung festgesetzt und möglichst zügig in ihre Herkunfts- oder Transitländer zurückgeführt werden. In der Praxis ist das allerdings nicht umzusetzen, da die meisten Herkunftsstaaten eine Rücknahme verweigern.

Seit Ende Juni lässt die griechische Regierung zudem Marineschiffe in der Nähe der ostlibyschen Küste patrouillieren. Zwei Fregatten wurden in das Seegebiet südlich von Kreta entsandt, um dort gemeinsam mit der Küstenwache Präsenz zu zeigen. Die Einsätze sollen nach Angaben aus Athen der Abschreckung dienen und weitere Überfahrten verhindern.

Allerdings ist unklar, was die griechische Küstenwache mit gesichteten Booten machen soll – das Abfangen oder Zurückbringen der Insassen nach Libyen ist europäischen Behörden völkerrechtlich verboten. Und eine Kooperation der griechischen Küstenwache mit maritimen Einheiten aus Ostlibyen gibt es – anders als im Westen des Landes mit Italien – nicht.

Die Patrouillen der griechischen Marine vor der libyschen Küste könnten auch die Spannungen mit der international anerkannten Tripolis-Regierung in Westlibyen weiter verschärfen. Die hat jüngst formell bei den Vereinten Nationen gegen griechische Ansprüche auf Seegebiete südlich und westlich von Kreta protestiert. Hintergrund ist ein andauernder Streit um Seegrenzen und Energie-Explorationsrechte im östlichen Mittelmeer. Athen hat dazu Lizenzen an Firmen wie ExxonMobil und Total vergeben. Tripolis sieht darin einen Eingriff in seine maritimen Rechte und verweist auf ein 2019 geschlossenes Seeabkommen mit der Türkei, das neben Griechenland auch die Europäische Union als völkerrechtswidrig betrachtet.

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Auch die europäische Grenzagentur Frontex baut nach Angaben der Organisation Refugee Support Aegean ihre Präsenz in der Region weiter aus. Bereits jetzt sind ein Schnellboot vor Gavdos und ein weiteres im Süden Kretas im Einsatz. Zusätzlich stationiert Frontex für die Überwachung des Ionischen Meeres eine große Drohne auf Kreta. Bis August sollen die Kapazitäten von Frontex nach Angaben der Behörden noch verstärkt werden – so jedenfalls berichtet es Refugee Support Aegean.

Die auf Kreta gestrandeten Geflüchteten werden derzeit in provisorischen Unterkünften untergebracht – etwa in leerstehenden Gebäuden, Zelten oder Hallen. Es fehlt an Infrastruktur für eine geordnete Erstaufnahme, medizinische Versorgung oder Schutz für vulnerable Gruppen. Nach Angaben von Hilfsorganisationen müssen einige der Menschen bei großer Hitze im Freien übernachten.

Kritik an der griechischen Migrationspolitik kommt von der linken Opposition und dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR). »Das Recht auf Asyl ist ein fundamentales Menschenrecht und gilt für jede Person – es ist im internationalen, europäischen und nationalen Recht verankert«, teilte das UNHCR mit. Refugee Support Aegean fordert dazu einen sofortigen Ausbau der Erstaufnahme auf Kreta und Gavdos. Es brauche feste Strukturen zur Registrierung, medizinischen Versorgung und zum Schutz besonders verletzlicher Personen – etwa alleinreisender Minderjähriger oder kranker Menschen. Derzeit fehlten dafür sowohl Personal als auch geeignete Einrichtungen.

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