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Woltemade’scher Identitätsverlust
Unser Kolumnist wundert sich über eine deutsche Sturmhoffnung und sehnt sich die neue Regionalliga-Saison herbei
Kaum hat sich der große Georg Buschner einmal im Grabe umgedreht, überfällt uns Fußballsüchtige der Anflug einer Sommerdepression. Noch zwei ganze, unerträglich lange Wochen müssen wir warten, bis in der gleichermaßen geliebten wie gehassten Regionalliga Nordost der Ball wieder rollt. Aber dann werden wir kurzbehost und unsexy im Sommerregen vom Aufstieg träumen und mit den Staren und Schwalben um die Wette tirilieren, wenn es am 27. Juli gilt, beim SV Babelsberg zu erscheinen. Das Karl-Liebknecht-Stadion ist reizend, die Fanszenen wohltuend, der Gegner Jena brauchbar, um die Frühform zu strapazieren.
Mitte Juni weilte ich ein paar Tage in der Slowakei, um der U21-Europameisterschaft der Jungmänner meine Reverenz zu erweisen. Auf diversen Autofahrten in den Osten passierte ich Bratislava, ohne eine Minute ihr K.-u.-K.-Flair zu genießen. Woltemade sei Dank, ergaben sich im heißen Frühsommer Tage der Muße, die ganz der Erkundung dienten. Ich kann euch die slowakische Hauptstadt ans Herz legen, die Einwohner werden von den gleichen Sehnsüchten und Wünschen gepeinigt wie wir. Ist es denn ein Wunder? Nein. Alle Bratislavistas lieben Slovan Bratislava, drücken wir ihnen somit am 22. Juli die Daumen; dann treten sie in der zweiten Champions-League-Qualifikationsrunde gegen Zrinjski Mostar aus Bosnien an – was für ein Leckerbissen, macht euch auf die Reise, lasst uns dort abhotten, der wilde Fußball-Osten wartet!
Frank Willmann blickt auf den Fußball zwischen Leipzig, Łódź und Ljubljana.
Ja, der junge Herr Woltemade, er verzückte mich im Fernseher im ersten Spiel der U21-EM derart, dass ich sogleich mit einer Reisegruppe in die Slowakei düste. Im zweiten Gruppenspiel gegen Tschechien glänzte er abermals im smarten Dunajská Streda, einer Kleinstadt an der Donau Richtung Ungarn.
Aber ach, als dem schnöden Kerlchen im spärlich gefüllten Mol-Stadion (benannt nach dem ungarischen Mineralölkonzern) ein Tor gedieh, zog es ihn magisch nicht zu uns, seinen Fans (mehrheitlich sehr ostdeutsch, Lieblingshit: U21 schalalalalala …), sondern zum eigens platzierten Fotografen. Höhe Eckfahne saugte dieser den Jubel Woltemades für Insta, Tiktok und wie sie alle heißen binnen Zehntelsekunden in die Kamera. Zugegeben, der deutsche Anhang zeigte sich jenseits von »Alla Bonheur«, wie der*die Schinkendeutsche sagt. Trotzdem irritierte das Bild des in die Kamera feixenden Profis die schwarzrotgoldene Fan-Gesandtschaft in ihrer treudeutschen Seele. Bitterer waren ihre Freudentränen selten.
Noch jung an Jahren, beherrscht der Bald-Bayernspieler (wer, wenn nicht die Münchner werden Made, wie ihn die Fans hinfort trotzig riefen, wohl vom Gabentisch verhaften) das Einmaleins der Selbstvermarktung – oder hat es sich von kundigen Imageberatern eintrichtern lassen (und gegebenenfalls den Ethikunterricht geschwänzt). Ich nenne es Woltemade’schen Identitätsverlust, wie aus einem spannenden Spieler ein x-beliebiges Projekt wird.
PS: Wie wir alle wissen, ist es jederzeit möglich, via 180-Grad-Rösselsprung zurück ins Herz der Fans zu gelangen, dafür gibt es schließlich gut bezahlte Fachkräfte.
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