Die Zeitnehmer der Tour

Ein Schweizer Uhrenhersteller misst bei der Frankreich-Rundfahrt die exakten Fahrzeiten aller Radprofis

  • Tom Mustroph, Hautacam
  • Lesedauer: 5 Min.
An jeder Ziellinie der Tour de France, bei Frauen und Männern: Die gelbe Box der Zeitnehmer
An jeder Ziellinie der Tour de France, bei Frauen und Männern: Die gelbe Box der Zeitnehmer

Die Herren über die Zeit bei der Tour de France arbeiten nicht gerade in einem Schloss. Nur neun Quadratmeter Grundfläche hat die Box, die direkt an der Ziellinie jeder Tour-Etappe aufgebaut ist. »Fünf Zeitnehmer arbeiten hier. Und zum Zieleinlauf kommen dann noch die vier Kommissare hinzu. Es wird also eng«, erzählt Pascal Rossier, Chef der Zeitnehmer des Schweizer Uhrenherstellers Tissot.

Wichtigste Aufgabe ist das Erfassen der Abstände beim Zieleinlauf. »Wir haben drei Leute, die genau das auswerten. Drei, weil wir je eine Kamera rechts und links an der Ziellinie installiert haben. Das hilft uns, wenn wir bei größeren Fahrergruppen die Reihenfolge bestimmen müssen. Und dann haben wir noch eine Ersatzkamera, falls die anderen ausfallen«, beschreibt Rossier das Set-up. 10 000 Bilder pro Sekunde liefern die Kameras. »Die Technik hat sich entwickelt«, sagt er lachend. Kameras sind auch bei den Zwischensprints und den Bergwertungen montiert.

Bergetappen als besondere Herausforderung

»Wir haben ebenfalls Zeitnehmer an der Drei-Kilometer-Marke positioniert«, ergänzt Rossier. Bei den meisten Etappen beginnt dort die sogenannte Sturzzone. Wer innerhalb der Zone stürzt, bekommt im Ziel die gleiche Zeit wie die nicht gestürzten Fahrer, mit denen der Gestürzte die Drei-Kilometer-Marke überquerte. Bei Massensprints ist die Sturzzone in diesem Jahr sogar auf fünf Kilometer ausgedehnt worden. Dann sind die zusätzlichen Zeitnehmer natürlich dort positioniert.

»Über die Zielfotos hinaus liefern wir auch die offiziellen Zeiten für die Resultate. Das ist eine eher komplexe Angelegenheit«, erzählt Rossier. Denn vor allem bei Bergetappen dauert es eine halbe Stunde oder länger, bis die Letzten ins Ziel kommen. »Dann dauert es auch, bis das komplette Resultat feststeht.« Die Verzögerung zwischen dem Zieleinlauf und der Meldung der Zeiten an das offizielle Ergebnisprotokoll beträgt aber nur fünf Sekunden, betont der Schweizer. Er arbeitet seit 30 Jahren für Tissot. Seit 2016 ist die Firma offizieller Zeitnehmer bei der Tour, also jetzt im zehnten Jahr in dieser Funktion tätig. »Seit den 1980er Jahren sind wir aber schon im Radsport aktiv, bei Weltmeisterschaften und vielen anderen Rennen«, sagt er.

Funklöcher als Erzfeind

Für die Zeitabstände zwischen einzelnen Gruppen, die im Fernsehen während der Etappen eingeblendet werden, ist seine Crew aber nicht zuständig. Also auch nicht für die manchmal nicht ganz exakt wirkenden Angaben. Tatsächlich werden diese Abstände von Sensoren der Begleitmotorräder abgelesen, und die sind mal mehr, mal weniger weit entfernt von der jeweiligen Gruppe. »Die Sensoren der Fahrer können mal ausfallen. Mit den Motorrädern geht man auf Nummer sicher«, erklärt Rossier diese Vorgehensweise. Die Tracking-Sensoren der Räder sind unter dem Sattel angebracht. »Prinzipiell können wir damit erkennen, wo sich jeder Fahrer im aktuellen Moment befindet. Allerdings birgt das auch Herausforderungen. Denn nicht nur die Sensoren können mal ausfallen. Auch die Übertragung der Daten ist teilweise schwierig, weil die Funkabdeckung nicht komplett ist«, beschreibt er die Tücken der Technik.

Das Material, das auf jeder Etappe eingesetzt wird, wiegt etwa zwei Tonnen. Das umfasst die Zielkameras, die Sensoren, die an jedem Rad angebracht sind, die Übertragungstechnik, die Computer, auf denen die Daten ausgewertet und aufbereitet werden. Schon anderthalb Stunden vor jedem Etappenstart muss das Team bereit sein. Hochleistungsphasen sind stets die Zeitfahren. Die Zeit dort wird übrigens nicht durch das manuelle Herunterzählen des Countdowns durch die Kommissare auf der Rampe und die dazugehörigen Handbewegungen ausgelöst, sondern durch die Lichtschranke, die die Fahrer passieren. »Es geht hier ja um Sekundenbruchteile«, sagt Rossier.

Besseres Tracking für eine schnellere Sturzhilfe

In Zukunft könnten seinem Team noch zusätzliche Aufgaben zufallen. Der Tod der Schweizer Radsportlerin Muriel Furrer während der Weltmeisterschaften 2024 hat das Tracking-Problem auf tragische Weise deutlich gemacht. Furrer blieb nach ihrem schweren Sturz längere Zeit unentdeckt in einem Waldstück liegen. Über die kontinuierliche Auswertung der Tracking-Positionen könnten derartige Unfälle in Zukunft schneller erkannt werden und Hilfe könnte früher an den Unfallort gebracht werden. Vor allem dann, wenn sich der Sturz außerhalb der Reichweite der Fernsehkameras ereignet und auch keine Begleitautos in der Nähe unterwegs sind. Die Zeitnehmer arbeiten gemeinsam mit dem Internationalen Radsportverband (UCI) bereits an einer Lösung.

»Wir entwickeln für die Weltmeisterschaften in Ruanda für die UCI eine Applikation, in der diese Daten aufbereitet werden. Die UCI nimmt diese Technologie dann ab und lässt sie zu«, erklärt Rossier. Gut möglich, dass sie nach dem Probelauf bei der WM verpflichtend wird für die größeren Rennen. Wie teuer das ist, und ob sich auch kleinere Rennveranstalter das leisten können, ist eine andere Frage. Tragisch wäre, wenn es aufgrund des Geldes unterschiedliche Sicherheitsstandards gäbe, nach dem Motto: Dort, wo viel Geld im Umlauf ist, sind die Radprofis besser geschützt, und wo es weniger Geld gibt, fällt der Schutz auch dürftiger aus.

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