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Ein Schleier aus Kohle, Glas und Lehm
Das Kunstwerk des Monats: cave_bureaus Transformation des britischen Pavillons in Venedig
Faustgroße Kugeln aus Lehm und Kohle sowie kleinere Glasperlen bilden einen durchlässigen Vorhang vor dem britischen Pavillon in Venedig. Die Installation im Rahmen der diesjährigen Architekturbiennale, die das neoklassizistische Gebäude weder frei zur Schau darbietet noch verhüllt, ist ein Werk von Kabage Karanja und Stella Mutegi. Sie sind das kenianische Kollektiv cave_bureau, das den Pavillon gemeinsam mit Owen Hopkins und Kathryn Yusoff kuratierte. Die Wahl der Materialien ist in mehrfacher Hinsicht bezeichnend: Kohlebriketts, Lehm und Glasperlen widersetzen sich der Einordnung in eine Architekturgeschichte, die imperiale Monumentalität durch Steine und Säulen stabilisiert. Sie wenden sich aber auch gegen eine (neo-)koloniale Extraktionslogik, die Ressourcen aus dem Globalen Süden entzieht und Umweltzerstörung und soziale Ausbeutung verursacht.
Bauten wie der 1909 errichtete britische Pavillon stehen für eine imperiale Repräsentationsarchitektur, wie sie in zahlreichen ehemaligen Kolonien weiterhin den urbanen Raum prägt. Oft unter Denkmalschutz, erscheinen sie seit der Kolonialzeit auf Postkarten. Während ephemere, aus Materialien wie Lehm geschaffene Architekturformen – etwa auch im Kontext von Unesco-Welterbelistungen – oft marginalisiert werden, dominiert die Monumentalität von Steinbauten weiterhin die architekturhistorische Wahrnehmung.
Die Installation »Double Vision: A Veil of Carbon and Clay« (Ein Schleier aus Kohlenstoff und Ton) von cave_bureau hinterfragt diese Dominanz und eröffnet zugleich neue Perspektiven auf den Umgang mit belastetem architektonischem Erbe. Die Lehmkugeln lassen die Struktur durchscheinen, unterlaufen jedoch ihren autoritativen Ausdruck. Ihre fragile, organische Materialität verweist auf ortsgebundene, gemeinschaftsorientierte Baupraktiken, in denen Architektur als soziales Gefüge sichtbar wird. Gleichzeitig treten sie in ein Spannungsverhältnis zur historischen Architektur, die sie partiell überlagern. So bleibt die Fassade des Pavillons formal erhalten, wird jedoch durch den Vorhang visuell gebrochen. Diese Intervention greift nicht in die bauliche Substanz ein, sondern legt sich temporär über das Gebäude – eine Schichtung, die Fragen nach der Sichtbarkeit kolonialer Vergangenheit ebenso aufwirft wie nach Möglichkeiten des Umgangs mit umstrittenem Architekturerbe.
Die übrigen in der Installation verwendeten Materialien zeichnen sich durch eine auffällige Mehrdeutigkeit aus. Besonders die Glasperlen, die im Titel der Arbeit unerwähnt bleiben, erweisen sich als zentral für das visuelle Gefüge der Installation. Blutrot schimmern sie zwischen dem braunen Lehm und den dunklen Kohlekugeln hervor und evozieren die Geschichte der Glasproduktion auf der nahegelegenen Insel Murano sowie die Rolle venezianischer Glasperlen in kolonialen Verflechtungen und globalen Handelsnetzwerken seit der frühen Neuzeit.
Doch dieser Anschein trügt: Die in der Installation verwendeten Perlen stammen nicht aus Murano, sondern aus Indien. Glasperlen gelangten über diverse Handelsrouten nach Ostafrika – aus Europa ebenso wie aus Asien. Historische Quellen zeugen von der Handlungsmacht ostafrikanischer Gemeinschaften, die aktiv über Wert, Farbe und Einsatz dieser Objekte bestimmten. So sind zahlreiche Briefe europäischer Händler und Kolonisatoren überliefert, in denen sie frustriert berichten, mit großen Mengen Glasperlen tief ins ostafrikanische Landesinnere vorgedrungen zu sein – nur um festzustellen, dass sich der Geschmack ostafrikanischer Gemeinschaften seit dem vergangenen Jahr geändert hatte. Die mitgeführten Perlen entsprachen nicht mehr den Vorlieben, ihre Farben waren nun unattraktiv oder veraltet.
Die Kisten voll mit importierten Glasperlen, die lokale Träger über weite Distanzen transportieren mussten, erwiesen sich dann als nutzlos – eine Erfahrung, die europäische Händler in Briefen verärgert festhielten. Die Glasperlen der Installation verweisen somit nicht nur auf historische Handelsbeziehungen und Bewegungen von Menschen, Objekten und Materialien, sondern auch auf die oftmals übersehenen Dimensionen lokaler ästhetischer Selbstbestimmung im Kontext kolonialer Machtasymmetrien.
Mehrdeutig sind auch die Kohlekugeln, der dritte Bestandteil des Vorhangs. Einerseits verweisen sie auf Kohle als fossiles Gut und zentrales Material britischer Kolonialmacht, das den Antrieb kolonialer Dampfer sicherte. Hier steht Kohle für Extraktion, ökologische Zerstörung und koloniale Gewalt. Gleichzeitig unterlaufen cave_bureau diese historische Semantik, indem die Kugeln aus in Kenia hergestellter Kohle gefertigt sind, die aus landwirtschaftlichen Abfällen gewonnen wird. In diesem Kontext fungiert Kohle als lokal verankerter Werkstoff, der sowohl auf zerstörte Ökosysteme verweist als auch auf alternative Formen der Ressourcennutzung.
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Die ökologische Dimension wird im Innern des Pavillons zentral. Im ersten Raum stellt die Arbeit »Earth Compass« von cave_bureau einzelne Länder anhand ihrer kumulierten nationalen CO₂-Emissionen dar. Staaten mit besonders hohen Emissionen (wie Großbritannien und Deutschland) befinden sich am unteren Rand der Skala, während Länder mit geringen Emissionen (wie Kenia) oben erscheinen. Diese visuelle Kartierung erzeugt ein Bild globaler Ungleichheit, das sich nicht in abstrakten Zahlen erschöpft, sondern räumlich erfahrbar wird.
Der Pavillon birgt weitere Werke. »Vena Cava« von Mae-ling Lokko und Gustavo Crembil lädt dazu ein, die koloniale Symbolik des Gewächshauses an Orten wie den Londoner Kew Gardens zurückzuerobern und mittels nachhaltiger Materialexperimente mit Pilzen, Biokunststoffen und Flugasche alternative ökologische Zukunftsszenarien zu entwerfen. »Objects of Repair« des Palestine Regeneration Team nutzt Trümmerbaumaterialien, um Fragen über Wiederaufbau und Klima‐Gerechtigkeit zu stellen. Und »Lumumba’s Grave« von Thandi Loewenson untersucht technologische Relikte der Raumfahrt als »Technofossilien« einer imperialen Expansion und stellt afrikanische Raumfahrtprojekte als Gegenerzählung dar.
Diese vertikale Ausrichtung von der Erde zum Weltraum im britischen Pavillon, den cave_bureau in den britisch-kenianischen Pavillon »GBR – Geology of Britannic Repair« umbenannten, wird bereits im ersten Raum deutlich, in dem die Sternenkonstellation der Nacht vom 12. Dezember 1963 – dem Tag der kenianischen Unabhängigkeit – erscheint. Gleichzeitig arbeiten cave_bureau die Orientierung des Pavillons heraus, der genau auf der Achse Großbritannien (nordwestlich des Gebäudes) und Kenia (südöstlich des Gebäudes) liegt. Die Achse erscheint als Linie imperialer Geschichte, geopolitischer Macht und ökologischer Verantwortung – und zeigt den Besucher*innen, dass wir nie orientiert gewesen sind.
Zu sehen auf der 19. Architekturbiennale in Venedig, bis zum 23. November
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