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Meine Tage als Kanone

Egal wie oft man es schon hatte: Corona ist jedes Mal aufs Neue ein besonderer Leidensweg. Angeblich aber jetzt normal

Wenn man sich Magen-Darm schon nicht schön vorstellen kann, dann doch wenigstens das Klo dazu.
Wenn man sich Magen-Darm schon nicht schön vorstellen kann, dann doch wenigstens das Klo dazu.

Das mulmige Gefühl, das mich neulich nachts wach werden ließ, hatte sein Zentrum eindeutig in meinem Magen. Da pochte etwas gegen die Magenwand, zunächst sanft und ohne größere Ambitionen, eher so, als wolle es beiläufig auf seine Existenz aufmerksam machen. Doch ich wusste sicher, dass ich nichts Lebendiges zu mir genommen hatte, zumindest konnte ich mich dessen nicht entsinnen. Das sanfte Pochen steigerte sich relativ rasch zu einer Art aggressivem Drücken. Und das Signal, das dieses Etwas an mein Gehirn sendete, war ebenso intensiv wie unmissverständlich: Ich will heraus.

Tatsächlich war das Gefühl, als ich mich kurz darauf auf Knien vor der Toilettenschüssel wiederfand, so eindringlich beziehungsweise herausdringlich geworden, dass ich einen Moment lang genau zu wissen glaubte, was Executive Officer Kane von der »Nostromo«-Besatzung in jenem Augenblick empfand, bevor das frisch geschlüpfte Alien seine Bauchdecke durchstieß. Mit dem Unterschied, dass das, was in meinem Fall herauswollte, kein Alien war. Es kam auch nicht durch meine Bauchdecke, sondern nutzte die herkömmlichen Wege: Innerhalb von Sekunden war ich zu einer menschlichen Kanone mutiert, aus deren sämtlichen Öffnungen es spritzte.

Insgesamt lässt sich der weitere Verlauf der Nacht so zusammenfassen: Sie war nicht schön.

Insgesamt lässt sich der weitere Verlauf der Nacht so zusammenfassen: Sie war nicht schön. Und sie war erst der Anfang. Die folgenden Tage und Nächte glichen einander, verschwammen zu einer nicht mehr in klare Segmente zu unterteilenden Zeitspanne, die von chronischer Übelkeit, Schwindelgefühlen und Dauerschüttelfrost gekennzeichnet war. Hinzu kamen zahlreiche weitere Beschwerden und Schmerzen, die sich teils in Körperteilen bemerkbar machten, von deren Existenz ich bis dahin nicht einmal wusste. Mein gesamter Organismus war zugleich von einer solch fundamentalen Mattigkeit erfasst, dass im Vergleich zu mir Lars Klingbeil wirken musste wie der junge Iggy Pop auf Speed. Nicht ausgeschlossen also, dass ich mir irgendeine Variante des Coronavirus eingefangen hatte.

Wenngleich ich offiziell gar nicht krank sein hätte dürfen. Denn mit der Corona-Pandemie hat die Bundesregierung bereits seit einiger Zeit eine Umgangsweise gefunden, die nicht nur unter finanziellen Gesichtspunkten optimal, sondern auch darüber hinaus clever ist: Man tut so, als sei sie nicht da. Kinder haben diese moderne Problemlösungsstrategie einst eingeführt (»Wenn ich die Augen zumache, kann man mich nicht sehen«) und die Politik hat sie sich erfolgreich abgeschaut. Die Vorteile liegen auf der Hand: Wenn man überzeugend genug vorgibt, etwas Unangenehmes sei nicht vorhanden, und es möglichst auch nicht erwähnt, muss man auch nichts dagegen tun. Gesundheitspolitisch ist das zwar eine – sagen wir: eher experimentelle Vorgehensweise. Doch aus Sicht der Regierung ist es etwas ganz anderes: ein enorm geldsparender Langzeit-Masterplan. Auch was den Klimawandel angeht, haben die letzten elf, zwölf Bundesregierungen eisern dieselbe Problemlösungsstrategie angewendet, bisher leider ohne durchschlagenden Erfolg.

Ich bin mir also nicht sicher, ob es sich in einer besseren Zukunft nicht vielleicht doch empfiehlt, die Realität zur Kenntnis zu nehmen. Sicher ist jedenfalls: Die Geschichte beweist, dass bisher die Realität stärker war als der Wunsch, diese möge nicht da sein.

Die gute Kolumne

Thomas Blum ist grundsätzlich nicht einverstanden mit der herrschenden sogenannten Realität. Vorerst wird er sie nicht ändern können, aber er kann sie zurechtweisen, sie ermahnen oder ihr, wenn es nötig wird, auch mal eins überziehen. Damit das Schlechte den Rückzug antritt. Wir sind mit seinem Kampf gegen die Realität solidarisch. Daher erscheint fortan montags an dieser Stelle »Die gute Kolumne«. Nur die beste Qualität für die besten Leser*innen! Die gesammelten Texte sind zu finden unter: dasnd.de/diegute

Aber zurück zu Corona, zurück zur Wirklichkeit: Täglich erkranken Menschen an neuen sogenannten »Covid-Varianten«, teils mit schweren gesundheitlichen Spätfolgen. Dennoch ist in den Medien nicht mehr viel davon die Rede, sieht man einmal davon ab, dass sie die Öffentlichkeit hin und wieder in einschläferndem Wissenschafts- und Technokratenjargon darüber informieren, dass es neue Sorten von mutierten Viren gibt. Den jeweils neu auftretenden »Corona-Mutationen« gibt man dann lustige Asterix-Legionärsnamen (Nimbus, Stratus, Keinverdrus), um beim Leser wenigstens ein Minimum an Interesse zu wecken. (Zugegeben: Der dritte Name ist von mir erfunden.)

Wer Krankheitssymptome an sich feststellt, die Rückschlüsse zulassen, dass es sich um eine Corona-Erkrankung handeln könnte, dem wird gesagt: »Die alten Covid-Selbsttests müssten eigentlich noch funktionieren.« Ganz so, als sei das eine Lösung seines Gesundheitsproblems. Wer sich trotz schlotternder Knie, hohem Fieber, Atemnot und Schweißausbrüchen vom Krankenbett dazu aufraffen kann, eine Drogerie aufzusuchen, muss erst einmal sieben bis zehn Euro für eine Packung sogenannter Schnelltests bezahlen, die allerdings kein zuverlässiges Ergebnis liefern.

Wer sichergehen will, ob er sich angesteckt hat, muss sich an eine der per Zufallsgenerator ausgewählten und immer mindestens einen einstündigen Fußmarsch entfernten Apotheken und Arztpraxen wenden und dort circa 90 Euro für einen PCR-Test bezahlen. Nach dem Test ist man zwar nicht weniger krank als zuvor, hat aber einen kleinen Beitrag zur deutschen Gesundheitspolitik geleistet, deren zentraler Pfeiler die sogenannte Eigenverantwortung ist. Der allerbeste Verhaltenstipp kommt aus dem Internet: »Versuchen Sie, fünf Tage nach dem Test zu Hause zu bleiben und den Kontakt mit anderen Menschen zu vermeiden.« Die Fragen, wer in dieser Zeit für einen einkauft und arbeiten geht und wie es gelingt, Mitbewohner oder Familienmitglieder in dieser Zeit in den Keller umzusiedeln, beantwortet leider weder das Internet noch die Bundesregierung.

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