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»Tach, Tristesse!«: Spuren eines DDR-Stars
Die Andere Welt Bühne in Strausberg lädt mit »Tach, Tristesse!« zum Plattenbau-Musical
Das Theater erlebt derzeit eine heftige Welle der Musicalisierung. Das Deutsche Theater Berlin ließ, noch unter der Intendanz von Ulrich Khuon, die Gedankenwelt des Anarchisten Max Stirner zum Musical mutieren, am Theater Dortmund wurde Marxens »Kapital« in diese Form gepresst und am Schauspiel Frankfurt »Solaris« von Stanisław Lem. Performance-Shooting-Star Florentina Holzinger hat mit ihrer jüngsten Arbeit »A year without summer« ein Frankenstein-Musical geschaffen, und in der Regie von Yael Ronen kann alles, vom Aufregerthema Cancel Culture bis zum kollektiven Trauma nach dem 7. Oktober 2023, zur Vorlage für ein Musical werden.
Wie ernst die Künstler das jeweils meinen oder wie viel Ironie dabei doch mitschwingt, ist durchaus eine berechtigte Frage. Jedenfalls begegnet das Theater gehäuft den Problemen der Gegenwart (die vielleicht doch eher die Bedingungen für große Tragödien bereithält?) zumindest formal mit den Mitteln der leichten Muse.
Nun ist das märkische Strausberg nicht Berlin, Dortmund, Frankfurt. Aber was die dortigen Bühnen können, kann man auch hier. Ein Plattenbau-Musical mit dem von Françoise Sagan inspirierten Titel »Tach, Tristesse!« (Regie: Paul Spittler) feierte am vergangenen Freitag an der Anderen Welt Bühne Premiere.
Teenagerin Evi macht mit ihrer Mutter Cilly Urlaub in der Platte in Strausberg. »WBS 70, ein DDR-Star« heißt es in einem der Songs. Melodie hin, Rhythmus her, das klingt zunächst wenig aufregend, besonders für Evi. Cilly nutzt aber die Gelegenheit, um sich ihre eigene Plattenbau-Jugend Mitte der 90er Jahre zu vergegenwärtigen und die Erinnerungen mit ihrer Tochter und dem Publikum zu teilen.
Damals hatte Cilly gerade ihre Mutter verloren. Ihrem Vater, Kraftfahrer Jürgen, droht wie vielen in dieser Zeit die Arbeitslosigkeit. Ihr schwuler bester Freund soll ins bürgerkriegszerstörte Bosnien abgeschoben werden. Und Ronny, mit dem sie anzubändeln beginnt, entpuppt sich als Neonazi.
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Das sind recht unterschiedliche Problemlagen, zwischen erster Liebe, jugendlichem Aufbruch und den gesellschaftlichen Verwerfungen der Nach-»Wende«-Zeit, die Autorin Cynthia Buchheim (die bei der Inszenierung auch selbst auf der Bühne steht) klug zusammenführt. Die Musik von Alexander Magerl sorgt dann für das Übrige.
Und auch derjenige, der ästhetisch mit Musicals oder den 90er Jahren hadert (dem Kritiker geht es ein wenig so), wird »Tach, Tristesse!« vielleicht einiges abgewinnen können. Das Spektakel vermag neben seinem Witz und seiner Freude an der Unterhaltung durchaus etwas von der Stimmung einer bemerkenswerten Zeit, zwischen vorgeblicher Entpolitisierung, blindem Hedonismus mitsamt Balla-Balla-Techno und völliger sozialer Schieflage durch Massenarbeitslosigkeit, Sinnverlust, Faschisierung, auf die Szene zu übertragen. Darüber hinaus entsteht fast so etwas wie eine Utopie: die Platte als letzter Ort einer, wenn auch mitunter verschrobenen, Solidarität unter Nachbarn.
Dass eine wirkliche Fallhöhe dennoch nicht entstehen kann, ist ebenfalls dem Genre des Musicals geschuldet. Die Inszenierung changiert zwischen ironischem Gestus, Spiel mit den trashigen Elementen und doch sehr ernsten Anliegen. Aber die Künstlerinnen und Künstler haben den Charme auf ihrer Seite. Und zeigen, dass Theater all das sein kann: lokal verankert, politisch und unterhaltsam.
Nächste Vorstellungen: 10., 15. und 16.8.
dieandereweltbuehne.de
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