Qua Geburt in der Datenbank

Ambitionierte Pläne für die Gesundheitsversorgung von Neugeborenen könnten weitreichende Folgen haben

  • Isabelle Bartram
  • Lesedauer: 5 Min.
Dummys von Säuglingen in einem Simulationslabor des Studiengangs Hebammenwissenschaft an der Hochschule Osnabrück
Dummys von Säuglingen in einem Simulationslabor des Studiengangs Hebammenwissenschaft an der Hochschule Osnabrück

Dass Neugeborene auf verschiedene genetisch bedingte Krankheiten getestet werden, ist in vielen europäischen Ländern üblich. Komplette DNA-Analysen erfolgen dabei aber bislang nicht regulär. Nun kündigte Großbritannien an, innerhalb der nächsten zehn Jahre ein genomisches Neugeborenen-Screening einführen zu wollen. Eine solche Praxis würde allerdings eine Reihe von ethischen Problemen aufwerfen.

Mitte Juli lud das Projekt New Lives an der Universität Heidelberg zu einem Abschlusssymposium ein. Das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Verbundvorhaben hatte seit 2022 Rahmenbedingungen entworfen, unter denen in Deutschland ein genomisches Neugeborenen-Screening durchgeführt werden könnte. Dieses würde beinhalten, das gesamte Genom von allen in Deutschland geborenen Babys auf angeborene Erkrankungen zu untersuchen, mit dem Ziel, betroffene Neugeborene möglichst früh zu behandeln und schwerwiegende Symptome zu verhindern. Die Internationale Konferenz über die Sequenzierung Neugeborener (International Conference on Newborn Sequencing – ICoNS) nennt vierzehn Projekte weltweit, die, angetrieben von Entwicklungen in der DNA-Sequenzierungstechnologie, die Frühdiagnose von Erkrankungen bei Babys auf ein neues Niveau heben wollen. Acht davon führen bereits Pilotstudien durch, bei denen Tausende Babys untersucht werden. Auch in Großbritannien startete 2022 eine Pilotstudie mit 100 000 Neugeborenen. Obwohl diese längst nicht abschlossen ist, gab die Regierung im Juni ihre Pläne zur Ausweitung des genomischen Screenings bekannt.

Durch die Besonderheit von genetischen Daten und die Menge an sensiblen Informationen, um die es geht, werfen solche Projekte ganz neue medizinethische Fragen auf, verglichen mit den bisherigen Untersuchungen nach der Geburt. Zudem wecken die riesigen Datenmengen, die so von einer ganzen Bevölkerung erhoben werden würden, verschiedene Begehrlichkeiten – mit potenziell erheblichen Konsequenzen für betroffene Individuen und die Gesellschaft.

Das gläserne Baby

Die Umstellung des regulären Neugeborenen-Screenings (siehe Kasten) auf eine Gesamtgenomsequenzierung würde nicht nur einen medizinischen Informationsreichtum schaffen. Es würden auch ganz neue Möglichkeiten des Missbrauchs und ungewollter Folgen entstehen. Erst recht, wenn die DNA-Daten, wie momentan auch in Deutschland diskutiert wird, für die Weiterverwendung in der Forschung oder spätere Gesundheitsversorgung langfristig gespeichert würden. So würde indirekt eine nationale DNA-Datenbank erschaffen, auf die auch aus dem Ausland zugegriffen werden kann, wenn die Daten als Teil der elektronischen Patientenakte in den geplanten Europäischen Gesundheitsdatenraum (EHDS) fließen.

Privatisierung von Gendaten

Genomische Daten enthalten eine Vielzahl persönlicher Informationen, wie z.B. biologische Verwandtschaftsverhältnisse, Behinderungen, Gesundheitszustand und andere Merkmale; sie sind zudem hochindividuell, nicht anonymisierbar und unveränderlich. Wegen dieser Eigenschaften sind Gendaten in der EU und Deutschland als besonders sensible Datenkategorie geschützt. Doch genomische Daten, die zu einem Analysezweck erstellt und gespeichert wurden, können relativ leicht zu anderen Zwecken verwendet werden.

Genomische Daten sind hochindividuell, nicht anonymisierbar und unveränderlich.

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Welche Begehrlichkeiten Gendaten von Neugeborenen wecken, zeigt der aktuelle Skandal um das genomische Neugeborenen-Screening-Projekt in Griechenland. Im April enthüllten Journalist*innen, dass die griechische Regierung zugestimmt hatte, zwei privaten Unternehmen uneingeschränkten Zugriff auf die DNA-Informationen von Neugeborenen in Griechenland zu gewähren. Im Januar 2025 sollte eine Pilotstudie beginnen, bei der die genomischen Daten von 100 000 Babys erhoben werden sollten. Bis 2029 sollte ein universales DNA-Screening für alle Neugeborenen in Griechenland eingeführt werden. Laut der Vereinbarung zwischen den Unternehmen RealGenix und Beginnings und dem griechischen Gesundheitsminister Adonis Georgiadis wären die Genomdaten Eigentum von RealGenix geworden. Dafür hätten die Unternehmen die Kosten der Sequenzierung von 100 000 Genomen in Höhe von 56 Millionen Euro übernommen. Die Vereinbarung sieht keine Sicherheitsvorkehrungen zum Schutz der hochsensiblen Daten vor, keine Anforderungen an eine elterliche Einwilligung oder Widerrufsrechte. Die Journalist*innen weisen in ihrem Bericht außerdem darauf hin, dass die Hälfte der von ICoNS aufgelisteten Projekte nicht von Ethikkomitees begutachtet und bewilligt wurden.

Von der Biochemie zur Genomik

Im Unterschied zu anderen Gesundheitsuntersuchungen durch Hebammen oder Ärzt*innen, geht es bei Neugeborenen-Screenings darum, erkrankte Babys zu identifizieren und diese zu behandeln, bevor Symptome auftreten und Folgeschäden hinterlassen. Der erste Screening-Test startete 1969 flächendeckend in Deutschland auf Phenylketonurie (PKU). Hier verursacht eine seltene Variante des Gens PAH Probleme bei der Verstoffwechselung der Aminosäure Phenylalanin. Unbehandelt können Betroffene eine Reihe von Symptomen von Lernschwierigkeiten bis hin zu Krampfanfällen entwickeln. PKU ist ein ideales Ziel für ein Neugeborenen-Screening, da bei frühzeitiger Diagnose die ansonsten irreversiblen Folgen durch eine strenge Diät umgangen werden können. Das betroffene Kind kann somit eine durchschnittliche Gesundheit und Lebenserwartung erreichen.
 Das Screening geschieht meist durch die biochemische Analyse von Fersenblut, das in den ersten Tagen nach der Geburt durch einen kleinen Nadelstich gewonnen, auf einen Papierträger getropft, getrocknet und in ein Labor geschickt wird. Bei auffälligen Befunden werden weitere Untersuchungen durchgeführt, um den Anfangsverdacht zu bestätigen und therapeutisch zu intervenieren. In Deutschland werden Babys momentan – nach Einverständnis der Eltern – auf 16 Erkrankungen getestet. Obwohl alle Erkrankungen genetische Ursachen haben, werden bisher nur einige Untersuchungen per Gentest durchgeführt. Tests, die auf DNA-Analysen statt auf der Analyse von Stoffwechselprodukten beruhen, haben den Vorteil, dass sie noch früher stattfinden können und nicht erst nach ein bis drei Tagen, wenn Erkrankungen auf biochemischer Ebene feststellbar sind. Rein hypothetisch könnten so jedoch aber auch Neugeborene als »krank« identifiziert werden, die nie krank werden – was derzeit durch die strengen Einschlusskriterien für Erkrankungen in das Screening verhindert wird. Doch durch das technologische Upgrade auf Gesamtgenom-Sequenzierung ist theoretisch eine grenzenlose Ausweitung des Screenings möglich. Die Zahl der bekannten monogenetischen Krankheiten und Eigenschaften wächst ständig – derzeit weiß man von den Auswirkungen von mehr als 4600 Genen. Nicht alle diese Zusammenhänge sind lebensbedrohend oder behandlungswürdig. Studien zeigen immer wieder, dass viele gesunde Proband*innen vermeintlich pathologische Genvarianten besitzen. Isabelle Bartram

Bei New Lives ist die ethische Bewertung eine integrale Säule des Projekts. Die Abwägungen drehen sich vor allem um das Individuum – nach welchen Kriterien erfolgt die Auswahl der Zielkrankheiten? Wie können Eltern ausreichend aufgeklärt werden, wie können sie zu negativen Befunden beraten werden? Ein aus dem Projekt hervorgegangenes Empfehlungspapier beschreibt Kriterien für die Auswahl der Zielkrankheiten sowie für die Qualität der informierten Einwilligung der Sorgeberechtigten.

Abwälzung der Verantwortung

Mit einer gesonderten informierten Einwilligung solle nach den Empfehlungen von New Lives auch eine Sekundärnutzung der Daten möglich sein. Der Gesetzgeber habe dabei »den Diskriminierungsschutz sicherzustellen« gegenüber Arbeitgebern oder Versicherungen. Der Schutz durch das Gendiagnostikgesetz vor staatlichem Zugriff auf Gendaten greift jedoch nicht mehr, wenn diese den medizinischen Kontext verlassen und zur Forschung benutzt werden. Und sollten die Daten in die elektronische Patientenakte der Neugeborenen fließen, können sie auch von pharmazeutischen Unternehmen beforscht werden – vermeintlich anonym, aber genetische Daten sind nie wirklich anonym. Ob eine Aufklärung der Sorgeberechtigten alle möglichen Konsequenzen dieser Datennutzung abdecken kann, bleibt unklar. Und wenn die informierte Einwilligung als Bedingung in den Vordergrund gerückt wird, bedeutet dies zugleich eine Abwälzung der Verantwortung auf das Individuum. In diesem Fall nicht mal auf die betroffene Person selber – das Neugeborene kann nicht einwilligen.

Möglichkeiten des Missbrauchs

In Zeiten eines politischen Rechtsrucks – weltweit und in Deutschland – müssen nicht nur individuelle Konsequenzen, sondern auch weitreichendere gesellschaftliche Folgen Teil einer Abwägung sein. In den USA nutzt die Polizei sowohl kommerzielle Gendatenbanken, die zu anderen Zwecken erstellt wurden, als auch im Rahmen des Neugeborenen-Screenings entstandene medizinische Fersenblut-Biobanken für ihre Ermittlungen. In autoritären Regimes wie in China werden bevölkerungsweite Gendatenbanken zur Überwachung von ethnischen Minderheiten verwendet. Aus der deutschen NS-Geschichte gibt es mehr als genug Beispiele über die Missverwendung von Datensätzen zur effizienteren Verfolgung von Minderheiten. Für potenziell Betroffene und Datenschutzinteressierte ist es also höchste Zeit, sich in die komplexe medizinethische Fachdebatte einzumischen.

Dr. Isabelle Bartram ist Molekularbiologin und Mitarbeiterin beim Gen-ethischen Netzwerk e. V.

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