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Symbole verfehlter Wohnungspolitik
Die Bewohner der verbliebenen »Weißen Riesen« von Duisburg leiden unter Stigmatisierung und dem maroden Umfeld
Noch einmal ist in Duisburg ein »Weißer Riese« gefallen. Das 63 Meter hohe Gebäude mit seinen einst 160 Wohnungen auf 22 Etagen wurde am Sonntag gesprengt. Es ist das dritte und letzte Hochhaus dieser Art, das kontrolliert zum Einsturz gebracht wurde. Bereits vor vier und sechs Jahren fielen zwei seiner »Brüder«. Das nun pulverisierte stand seit fünf Jahren leer, die letzten Bewohner waren im Juli 2020 ausgezogen. Die Stadt will das Wohngebiet Hochheide mit drei verbliebenen Blöcken derselben Bauart umgestalten.
Die Hochhaussiedlung im äußersten Westen der Stadt ist seit Jahren Gegenstand von alarmistischen Berichten. »Sozialbetrug im großen Stil« erkannten Behörden. Logistikunternehmen wie DHL weigerten sich zeitweise, Pakete zuzustellen oder gingen nur noch mit Sicherheitspersonal in die Häuser. Für die Mitarbeiter sei es dort zu gefährlich, hieß es. Die Wohnsilos, zu Baubeginn Anfang der 70er Jahre liebevoll »Weiße Riesen« getauft, gelten mittlerweile als Schandfleck und sogar als Kriminalitätsschwerpunkt.
Im Abriss der drei Gebäude sieht Nordrhein-Westfalens Bauministerin Ina Scharrenbach einen »wichtigen Schritt, um die Wohngegend aufzuwerten«. »Der dritte ›Weiße Riese‹ geht zu Boden und macht Platz für Licht, Luft und neue Stadtgeschichte«, erklärte die CDU-Politikerin am Sonntag recht pathetisch. Allein ihr Ressort hat die Beseitigung der Hochhäuser mit 32,7 Millionen Euro unterstützt.
Und was halten die Bewohner von den Maßnahmen? Wie fühlen sie sich in der angeblich so gefährlichen Nachbarschaft? Kommt man in die Siedlung, wirkt alles ruhig. Kinder spielen vor einem Hauseingang Fangen. Zwei junge Männer stehen rauchend ein wenig abseits, ein Einkaufswagen vom benachbarten Supermarkt steht herrenlos herum, Tauben picken im herumliegenden Müll. Viele der hier geparkten Autos haben ein polnisches, rumänisches oder bulgarisches Nummernschild.
An diesem sonnigen Nachmittag erstrahlen die drei noch bewohnten Hochhäuser fast wie früher. Das Sonnenlicht wird von den unzähligen Fenstern des »schlimmsten« und größten Riesen mit der Adresse Ottostraße 58 bis 64 reflektiert. Ein verbeulter weißer Transporter kommt an, ein Paar steigt aus. Die beiden benutzen den Einkaufswagen als Transporthilfe für Regale, die sie in ihre Wohnung bringen wollen. Schließen die Haustür auf und gehen zum Lift. Ohne den geht gar nichts hier.
Wir kommen ins Gespräch. »Wir wohnen seit Jahren schon hier und kommen aus Bulgarien«, sagt die Frau, die den Reporter ins Haus lässt. Ihr Mann schafft derweil die augenscheinlich alten Regale in den Fahrstuhl. Wie lebt es sich hier? »Wir haben keine Probleme hier«, sagt die Bulgarin. Aber: »Es ist schmutzig, laut und Glasscherben liegen überall herum.« Und fühlt sie sich auch unsicher? Ist es gefährlich hier? »Nein«, sagt sie, steigt zu ihrem Mann in den Aufzug und winkt freundlich.
Wieder draußen vor der Tür, einen Hauseingang weiter, kommt Elena gerade mit zwei vollgepackten Taschen vom Einkauf. Sie hat schwarzes schulterlanges Haar, lächelt. Ganz offen spricht sie vom Leben hier in den Weißen Riesen, die vor 50 Jahren mit jeweils 22 Geschossen und insgesamt 1440 Wohungen so etwas wie Moderne und Urbanität in der früheren Bergarbeitersiedlung Rheinpreußen verkörperten. Urbanität durch Dichte. Wer hier eine Wohnung bekam, hatte Glück. Das sagt zumindest Martin Offergeld, Leiter des Sachgebiets Stadterneuerung bei der Verwaltung der Ruhrgebietsmetropole.
Elena ist erst seit April Mieterin hier. »Wir haben vorher die Immobilie nicht besichtigt, sondern sind einfach hierher gezogen, weil der Vermieter nett war und wir uns verändern wollten«, sagt die junge Frau, die aus dem Iran stammt und am linken Oberarm ein kleines Tattoo trägt. Ziemlich blauäugig, oder? »Ja, am Anfang war es der Horror.« Gleich am ersten Tag wurde die Windschutzscheibe ihres Mazdas eingeschlagen. Am zweiten Tag das nächste »Willkommensgeschenk«, wie sie es nennt. »Ich stellte mein Auto in die Tiefgarage. Dort kam es zu einer Brandstiftung, und mein Wagen wurde leicht beschädigt.« Danach sei es zum Glück ruhiger geworden.
Während unserer Unterhaltung tauchen Leute vom Ordnungsamt und der Verkehrsüberwachung der Stadt auf. Ein Mann zückt sein Handy, fotografiert Müllhaufen und die Hauseingänge. Die beiden jungen Frauen von der Verkehrsüberwachung schreiben Knöllchen und lächeln uns zu. Elena stört sich daran nicht. Sie kennt auch die Schlagzeilen über ihr Viertel. »Ich fühle mich hier aber sicher.«
Pro Kopf der auf engem Raum lebenden Bewohner ist die Kriminalitätsstatistik eigentlich auch gar nicht auffällig. »Im gesamten laufenden Kalenderjahr kam es bis Ende Juni zu polizeilichen Einsätzen in einer sehr geringen dreistelligen Anzahl«, teilt die Polizei mit. Darunter solche, bei denen Beamte lediglich zu Hilfe gerufen worden seien. Bei Brandmeldealarmen, einem Wasserohrbruch oder Sterbefällen, Verkehrsunfällen oder weil jemand vermisst wird.
Also: kein Kriminalitätshotspot. Dennoch führte die Stadt Duisburg zusammen mit ihren Ämtern und der Polizei gerne mal »ordnungsbehördliche Maßnahmen« durch, die groß in den Lokal- und Boulevardmedien aufgegriffen wurden und so grassierende Vorurteile verfestigten. Die Duisburger Linke konstatierte denn auch: »Die Bewohner*innen der Weißen Riesen sind viel mehr Opfer ihrer Situation als Täter*innen.«
»Was mich stört, ist die Vermüllung und dass manche Leute schmutzig sind«, sagt Elena. Sie meint damit Nachbarn, die aus Rumänien und Bulgarien stammen, viele von ihnen Roma oder ethnische Türken. In Duisburg leben fast 26 000 Rumänen und Bulgaren, oft in prekären Verhältnissen. Sie werden nicht selten ausgebeutet von Unternehmern und Vermietern, müssen teils horrende Mieten löhnen.
Sie und alle anderen Bewohner sollen durch ein Nachbarschafts- und städtisches Stadtteilbüro und Sozialarbeit unterstützt werden. Die Angebote werden angenommen, aber von zu wenigen, hört man im Viertel. Viele würden gar nicht erreicht werden. Die Linke will hier am 14. September bei der Kommunalwahl Stimmen gewinnen, der AfD die Stirn bieten. Sie fordert seit Langem deutlich mehr Integrationsarbeit.
Elena findet das gut. Sie habe in der Nachbarschaft noch nie einen Sozialarbeiter gesehen, sagt sie. Britta Kurtz, Direktkandidatin der Linken für den Bezirk, meint: »Es muss investiert werden in Menschen, in Gemeinschaft, in Zukunft.« Konkret heißt das: regelmäßige Sozialberatung, Freizeitangebote für Kinder und Jugendliche, offene Treffpunkte für Familien und niedrigschwellige Beratung.
Elena sagt, sie habe schon gesehen, wie Nachbarn Abfall aus dem Fenster geworfen haben. »Leider passiert dagegen zu wenig. Der Vermieter weiß um das Problem, auch die Hausverwaltung«, sagt sie. Die Stadtverwaltung erklärt dazu, man stehe bei Bedarf im Austausch mit den Vermietern. Aber es sei nicht leicht: Denn: »Die Wohnhochhäuser befinden sich in Privateigentum und sind in Teilen durch eine vielschichtige Eigentümerstruktur geprägt.« In den 80ern wurden die Einheiten teilweise in Eigentumswohnungen umgewandelt und überwiegend an die damaligen Mieter verkauft.
»Der dritte Weiße Riese geht zu Boden und macht Platz für Licht, Luft und neue Stadtgeschichte.«
Ina Scharrenbach (CDU)
Bauministerin von Nordrhein-Westfalen
Mit herkömmlichen Mitteln bekommt die Stadt deshalb das Müllproblem und den hohen Leerstand nicht in den Griff. Sie hat deshalb das Integrierte Städtebauliche Entwicklungskonzept, kurz ISEK, für für Hochheide erarbeitet. Es sieht unter anderem vor, dass dort, wo die gesprengten Gebäude standen, ein Stadtpark mit einer Gesamtfläche von 6,5 Hektar geschaffen werden soll. Bisher ist noch nichts passiert. Bauzäune und Gitter prägen die riesige Freifläche. Nach Darstellung der Stadt wurden die Hochheider dazu befragt und ihre Stimmen bei den Planungen berücksichtigt. »Es braucht klare Informationen, offene Kommunikation und echte Beteiligung – nicht erst am Ende eines Prozesses, sondern von Beginn an«, mahnt Britta Kurtz aus Erfahrung.
Zu denen, die hier in Hochheide aufgewachsen sind, gehört Mahmut Özdemir, der seit 2013 für die SPD im Bundestag sitzt. Er hat den Abriss der drei Riesen befürwortet. Auch, weil die Eigentümer nicht dafür sorgten, dass die Wohnverhältnisse sich verbesserten, wie er erklärt.
Eigentlich müssen Eigentümer dafür sorgen, dass ihre Immobilien sauber sind oder eine Hausverwaltung damit beaufragen. Tun sie das nicht, muss die Kommunalverwaltung einschreiten, was sie bei den Weißen Riesen in den letzten Jahren auch immer häufiger tun musste. Es enstanden hohe Kosten.
Das Entwicklungskonzept sieht vor, mit dem neuen Quartierspark Freiräume zu schaffen, »die Raum für Begegnung und sozialen Zusammenhalt bieten, um die Integration zu fördern und Hochheide wieder zu einem attraktiven Wohnstandort zu entwickeln«. Dass die Siedlung jahrzehntelang vernachlässigt wurde, dass kaum modernisiert und saniert wurde, liegt nach Angaben der Stadtverwaltung daran, dass keine Investoren einsteigen wollten und Förderbescheide sehr spät kamen.
Das will Britta Kurtz nicht gelten lassen. »Viele der Bewohner*innen empfinden die eigene Situation genauso als belastend wie Außenstehende. Was ihnen fehlt, sind bereitgestellte Ressourcen, um Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten.« Die Folge: Notwendige Instandhaltungsmaßnahmen werden nicht ausgeführt, es entstehen echte Probleme mit Müll und Ungeziefer. Das führe zu Resignation und schade dem sozialen Miteinander, sagt Kurtz.
Dass der neue Park für Entlastung sorgt, glaubt ein weiterer Bewohner der Ottostraße nicht. »Abrisse verlagern nur die Probleme, die wir hier haben«, sagt er im Gespräch mit »nd«. Dann gibt er einen Hinweis: »Wenn Sie nach nach oben gehen und sich Wohnungen anschauen möchten, bitte nur den Lift nehmen. Das Treppenhaus stinkt nach Urin.« Hier pinkelten wohl »die Roma« hin, einige von »denen scheißen auch einfach auf die Treppe«, behauptet er. Tatsächlich riecht es im Treppenhaus ein wenig nach Urin. Und es liegen Verpackungen von Riegeln oder Zigaretten herum. So wie draußen.
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