Jesidische Familie: Abschieben um jeden Preis

René Wilke setzt in Brandenburg die rigorose Abschiebepraxis seiner Vorgängerin fort, die auch vor Genozidüberlebenden keinen Halt macht

Geflüchtete warten in einem Raum auf dem Gelände der Zentralen Ausländerbehörde.
Geflüchtete warten in einem Raum auf dem Gelände der Zentralen Ausländerbehörde.

Als die Ausreisepflicht gerichtlich aufgehoben wurde, war es für die beiden Eltern und ihre vier minderjährigen Kinder schon zu spät. Die Vollzugsbehörden waren schneller und hatten die jesidische Familie aus dem brandenburgischen Lychen bereits in einen Flieger gesetzt. Als die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Potsdam fiel, hatte der schon im irakischen Bagdad aufgesetzt. Recht bekommen, als die Tatsachen schon geschaffen waren: Die Familie, die 2014 vor dem Völkermord des sogenannten Islamischen Staats an den Jesid*innen zunächst ins nordirakische Sindschar-Gebirge geflohen war und sich seit mehreren Jahren in Deutschland befand, ist wieder im Irak.

Und das, obwohl das Verwaltungsgericht Potsdam dem Eilantrag der Familie noch am Tag der Abschiebung stattgegeben hatte. Laut Brandenburger Flüchtlingsrat ging der Antrag noch ein, während sich das Flugzeug auf der deutschen Startbahn befand. »Die Anwältin hatte auch noch Kontakt mit der Ausländerbehörde. Da hätte man also durchaus noch was tun können, hätte es den Willen gegeben«, sagte Sprecherin Kirstin Neumann dem »nd«. »Da wurden Tatsachen geschaffen, die es der Familie im Nachhinein erschwert, das noch rückgängig zu machen.« Mit einem weiteren Eilantrag wollen die Anwälte nun erreichen, dass die Familie zurückgeholt wird.

Die Chancen jedoch, dass sich Brandenburg dafür einsetzt, stehen schlecht, die Antragsgegnerin ist unter anderem die Brandenburgische Ausländerbehörde ZABH. Dabei hatte der parteilose Innenminister René Wilke noch vergangene Woche behauptet, sich für eine Rückbringung einsetzen zu wollen. Er habe »die zuständigen Behörden in Brandenburg damit beauftragt, in Abstimmung mit den Behörden des Bundes auf die zügige Rückholung der Familie hinzuwirken, sofern die gerichtliche Entscheidung Bestand hat«, teilte er vergangenen Freitag mit. »Dafür ist es zwingend notwendig, dass der Bund den Betroffenen die erforderlichen Reisepapiere ausstellt.«

»Die Anwältin hatte auch noch Kontakt mit der Ausländerbehörde, als der Eilantrag einging. Da hätte man also durchaus noch abwarten können.«

Flüchtlingsrat Brandenburg

Doch nun liegt eine weitere Entscheidung des Verwaltungsgerichts Potsdam vor: Das Asylgesuch der Familie sei »unbegründet«. Jedoch schwächte das Gericht die ursprüngliche Entscheidung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bamf), der Familie kein Asyl zu gewähren, in der Formulierung ab: von »offensichtlich unbegründet« zu »unbegründet«. Das ist ein wichtiger Unterschied, denn nur durch die Einstufung als »offensichtlich unbegründet« ist es möglich, eine Abschiebung trotz laufender Klage durchzusetzen. Wenn ein Gericht das in »unbegründet« abändert, ist eine Abschiebung nicht mehr ohne Weiteres möglich. Trotzdem: Mit der aktuellen Entscheidung könne Wilke nichts mehr für die Familie tun, eine Rückholung sei keine Option mehr, hieß es aus dem Innenministerium. Gegenüber dem »nd« verwies eine Sprecherin auf das Urteil, das »es zu respektieren« gelte.

Es bestehen weitere Zweifel, ob die Abschiebung selbst rechtskonform war. So sei die Familie laut deren Anwältin nicht, wie rechtlich vorgesehen, einen Monat vorher über die Abschiebung informiert worden und habe während des Vollzugs zunächst nicht die Möglichkeit gehabt, sie zu informieren. Daher konnte der Eilantrag erst so spät gestellt werden.

So wurde in aller Plötzlichkeit eine Familie, die seit mehreren Jahren in Lychen wohnte, an den Ort zurückgeschickt, aus dem sie 2014 floh. 2023 erkannte der Bundestag die Verbrechen des IS an den Jesid*innen als Völkermord an. Das Bamf betrachtet die Verfolgung von Jesid*innen als Gruppe jedoch seit 2017 als beendet, seither werden Asylentscheidungen im Einzelfall getroffen. Gegen diese Einschätzung spricht jedoch, dass Brandenburg selbst noch seit 2019 ein Aufnahmeprogramm für Jeside*innen aus Nordirak unterhielt. »Die Lage im Sindschar-Gebirge ist für Jesid*innen weiterhin sehr düster und in den Geflüchtetenlagern prekär«, sagt Kirstin Neumann. »Die Sicherheit ist immer noch instabil, deswegen verlassen viele die Lager nicht. Vieles ist vom IS zerstört, und sie können zu nichts zurückkehren.«

Frauen und Kinder zuerst

»Läuft Abschiebung bei René Wilke nach dem Prinzip ›Frauen und Kinder
zuerst‹?« So kommentierte der Brandenburger Landesvorsitzende der Linken, Sebastian Walter, die Abschiebung am Mittwoch und kritisierte, dass diese erstinstanzliche Entscheidung des Potsdamer Gerichts von der Familie auf dem Rechtsweg noch hätte angefochten werden können. Tatsächlich gibt sich Wilke beim Thema Asyl als Befürworter von Automatismen statt rechtlicher Verfahrenswege. So forderte der erst im Mai für die zurückgetretene Katrin Lange (SPD) berufene Innenminister vergangene Woche, dass »untergetauchte« Asylbewerber*innen automatisch ihren Asylanspruch verlieren sollen. Er hält dazu auch einen Vorstoß Brandenburgs auf Bundesebene für denkbar. »Wenn du ständig versuchst, dich da zu entziehen, dann müssen wir dafür sorgen, dass wir deiner habhaft werden«, sagte Wilke. Als untergetaucht kann gelten, wer wiederholt Anhörungstermine nicht wahrnimmt oder seinen Wohnort nicht mitteilt – für Behörden also nicht auffindbar ist. Nach Angaben des Ministeriums war das in diesem Jahr bei 855 Menschen der Fall.

Bereits Wildes Vorgängerin Lange setzte auf einen rigorosen Abschiebekurs und wollte dazu auch umstrittene Instrumente wie die sogenannten Tischfestnahmen einführen, wobei Ausländer bei behördlichen Terminen von der Polizei überrascht und in Abschiebehaft genommen werden. Noch gibt es keine gesetzliche Vorgabe dazu – einzelne Kommunen sollen die Maßnahme aber nach Ministeriumsdarstellung bereits anwenden. René Wilke unterstützt diese Methode explizit. Solche Maßnahmen würden Asylbewerber häufig erst zum Untertauchen drängen, hieß es damals vom Flüchtlingsrat.

Waren es 2023 noch insgesamt 744 Rückführungen (darunter Abschiebungen und freiwillige Ausreisen), stieg die Zahl unter Lange 2024 um etwa 28 Prozent auf 955 an. Dieser Aufwärtstrend dürfte sich auch unter Wilke fortsetzen: Nach den Plänen der Landesregierung soll 2028 eine Abschiebehaftanstalt in Betrieb gehen. Die Standortsuche soll laut Innenministerium 2026 abgeschlossen werden, 2027 der Bau beginnen. Zur Erinnerung: 2017 musste eine solche Anlage wegen erheblicher Sicherheitsmängel vor allem beim Brandschutz geschlossen werden. Seither nutzt Brandenburg die Haftanstalten anderer Bundesländer.

René Wilke ist ein Innenminister, der auf automatische Ansprücheverwirkung, stärkere Kontrolle und institutionelle Aufrüstung setzt. Für den Flüchtlingsrat Brandenburg bedeutet das, dass es wahrscheinlich mehr Fälle wie jenen der Familie aus Lychen geben wird. »Wir brauchen eine humanitäre Politik, die nicht einfach nur auf mehr Abschiebezahlen schaut, sondern eben auch auf mögliche Bleiberechte oder die jeweilige Verwurzelung«, sagt Neumann. Eine Politik also, die nach oft jahrelang dauernden Asylverfahren auch darauf blickt, was sich jemand in dieser Zeit hier vielleicht schon aufgebaut hat. »Die Kinder waren drei Jahre lang hier in der Schule. Die hätten doch auf jeden Fall Bleiberecht bekommen.«

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