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Erhard Crome: »Der Westen hat den Kalten Krieg gewonnen«
Erhard Crome zur Bedeutung der KSZE-Schlussakte damals und heute
Je nach Verortung in Ost oder West wurde die KSZE-Schlussakte als Schritt zu Entspannung und Abrüstung gesehen. Sie galt als »Durchlöcherung des Eisernen Vorhangs«, bei nicht wenigen Menschen im damaligen »Ostblock« und insbesondere der DDR als Öffnung der Gesellschaft sowie auch als Chance auf »Westreisen«. Was war sie denn tatsächlich?
Sie war wohl irgendetwas dazwischen. Um das zu verstehen, muss man sich in Erinnerung rufen, dass der Kalte Krieg drei Dimensionen hatte: Die erste war das Wettrüsten, das in den 1960er Jahren in immer größere Arsenale an Atomwaffen mündete. Die zweite waren Kriege an der Peripherie – der Korea-Krieg, der Vietnam-Krieg, in denen die Amerikaner beziehungsweise der Westen versuchten, Positionen wieder zu stärken, die sich aus dem Kolonialismus ergeben hatten. Und die dritte war die Auseinandersetzung in Europa, insbesondere um die deutschen Angelegenheiten. Das Potsdamer Abkommen hatte ja keine definitive Lösung der deutschen Frage gebracht, sondern nur die Besatzungszonen definiert und die Maßgabe, Deutschland weiter als Ganzes zu behandeln und dann entsprechende Klärungen herbeizuführen. Das hat allerdings nicht stattgefunden, weil es zu den beiden Staatengründungen – BRD und DDR – kam. Insofern waren diese Auseinandersetzungen in Mitteleuropa eine der wichtigsten Fronten des Kalten Krieges, die tatsächlich mehrmals bis an den Rand eines größeren Krieges geführt hatten. Man braucht ja nur daran zu denken, dass sich nach dem 13. August 196 am Checkpoint Charlie in Berlin us-amerikanische und sowjetische Panzer direkt gegenüberstanden.
Deshalb war Mitte der 1970er die Zeit reif für die KSZE?
Ja, denn es war in erster Linie die Funktion der KSZE, diese Spannungssituation in Mitteleuropa zu entschärfen und das Ganze in etwas zu überführen, was man damals Modus Vivendi nannte: eine Klärung der Verhältnisse herbeizuführen, ohne alle Grundfragen gelöst zu haben.
Nach zweijährigen Verhandlungen wurde am 1. August 1975 in Helsinki die Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) unterschrieben. In den vier sogenannten Körben wurden solche völkerrechtlichen Prinzipien wie die Unverletzlichkeit der Grenzen, die territoriale Integrität, die friedliche Streitbeilegung und die Nichteinmischung in innere Angelegenheiten festgeschrieben, zugleich aber auch die Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, einschließlich der Gedanken-, Gewissens-, und Religionsfreiheit bekräftigt. Abschnitt 1 behandelt »Fragen der Sicherheit in Europa«, während Abschnitt 2 die Zusammenarbeit in den Bereichen Wirtschaft, Wissenschaft und Umwelt umfasst; der dritte Korb geht auf Fragen der Sicherheit und Zusammenarbeit im Mittelmeerraum ein; Teil 4 auf humanitäre und kulturelle Bereiche. Die KSZE-Schlussakte hatte eine Reihe von Folgekonferenzen, die sich unter anderem mit sicherheits- und vertrauensbildenden Maßnahmen beschäftigten. 1994 ging die KSZE in der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) auf.
Die Anerkennung der Nachkriegsrealitäten dürfte insbesondere konservativen Kräften in Westdeutschland nicht gefallen haben.
Man muss in diesem Zusammenhang sehen, dass die Alleinvertretungsanmaßung der Bundesrepublik – also die Doktrin, für ganz Deutschland zu sprechen und keine Beziehungen zu Staaten zu unterhalten, die die DDR anerkannten – immer brüchiger wurde. Die DDR wurde seit Ende der 1960er Jahre von immer mehr Staaten anerkannt, so ließ sich diese Politik nicht weiter verfolgen. Es brauchte eine andere Lösung. Das war dann die Brandtsche Ostpolitik. Dazu gehörte, alle jene Dinge praktisch zu klären, die sich klären ließen.
Das galt auch für den Ausbau des europäischen Vertragswerkes?
Richtig. Dieser beginnt mit dem Vertrag zwischen der Sowjetunion und der BRD vom 12. August 1970. Zu dem gehörte ein Papier »Absichtserklärungen«, das jene Punkte auflistet, die im Verhältnis zu Polen, zur DDR und zur Tschechoslowakei zu klären waren sowie die Unterstützung der KSZE. Das Vertragswerk umfasste auch das Abkommen Polen-BRD und ganz wesentlich das vierseitige Abkommen über Westberlin vom 3. September 1971. Jenes war ja eine Sache der vier Siegermächte des Zweiten Weltkriegs, aus dem sich aber Folgerungen für die beiden deutschen Staaten ergaben. Dazu zählte zunächst der Vertrag der DDR und der BRD über den Transitverkehr, eine Vereinbarung der Regierung der DDR mit dem Senat von Westberlin über Besucherverkehr und Gebietsaustausch. Dann folgte der Verkehrsvertrag mit der BRD im Mai 1972 und schließlich der Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der DDR und der BRD vom 21. Dezember 1972. Dazwischen lag der Beitritt der beiden deutschen Staaten zur Uno, wozu es dann einen Antrag der beiden deutschen Staaten gab und eine Erklärung der vier Mächte, dass sie dem zustimmen.
Welche Rolle spielte der KSZE-Prozess dabei?
Der wurde parallel dazu eingeleitet. Letztlich hat er dazu gedient, nicht nur die jeweiligen bilateralen Beziehungen zu regeln, sondern das Verhältnis zwischen Ost- und Westeuropa insgesamt zu entspannen und auf eine vertragliche Grundlage zu stellen.
Erhard Crome studierte Außenpolitik in der DDR, promovierte 1980 und habilitierte sich 1987 in Potsdam. Es folgten Stationen an diversen Hochschulen und Universitäten sowie bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Crome ist Geschäftsführender Direktor des Potsdamer Welttrends-Instituts für Internationale Politik und Mitbegründer und Mitglied der Redaktion der außenpolitischen Zeitschrift »Welttrends«.
Was hat sich mit der KSZE und ihrer Schlussakte real geändert in Europa?
Real geändert hatte sich die gesamte Atmosphäre der Beziehungen zwischen Ost und West. Es gab Folgevereinbarungen zwischen Warschauer Vertrag und Nato über vertrauensbildende Maßnahmen, etwa über konventionelle Rüstungskontrolle vom Atlantik bis zum Ural (1986) sowie eine multilaterale Rüstungskontrollvereinbarung, wonach Militärmanöver ab einer bestimmten Größenordnung angekündigt werden mussten und Manöverbeobachter eingeladen wurden. Zentral war dann die sowjetisch-amerikanische Vereinbarung (1987), alle in Europa stationierten Nuklear-Raketen mittlerer und kürzerer Reichweite abzubauen und zu vernichten. Die KSZE hat insgesamt eine grundsätzliche Veränderung in Gesamteuropa mit sich gebracht.
Sie haben über die verschiedenen Verträge gesprochen, die in den 1970er Jahren geschlossen wurden und die den Weg zur KSZE-Schlussakte ebneten. Gehört zur Wahrheit nicht auch, dass eine solche Einigung nur auf der Basis des sogenannten Gleichgewichts des Schreckens möglich war und den Status quo festschreiben sollte?
Da gab es unterschiedliche Perspektiven. Die Sowjetunion und die östlichen Länder wollten mit der KSZE in erster Linie die Friedensklauseln aus der Uno-Charta noch einmal für Europa bestätigen. Was dann mit dem Korb 1 der Schlussakte geschah. Im Westen gab es in erheblichem Maße die Absicht, die Freizügigkeit von Personen und auch Ideen zu befördern. Die realsozialistischen Staatsparteien glaubten damals noch, dass sie damit auf Dauer umgehen könnten. Letztlich hatte es aber neue Möglichkeiten für die Entwicklung einer Opposition in den osteuropäischen Ländern gegeben, beginnend mit Václav Havel und seinen Anhängern in der Tschechoslowakei, dann Solidarność in Polen. Die Opposition in der DDR kleckerte dann sozusagen 1989 hinterher, weil bis dahin der Grundsatz galt, wem es hier nicht passte, der ging in den Westen und war erst einmal weg. Dieses Freizügigkeitsprinzip war eine westliche Absicht, die sich am Ende praktisch gegen die Fortexistenz des Realsozialismus wenden ließ.
Dieser scheiterte aber nicht nur an der Freizügigkeit ...
Ganz sicher nicht. Ich erinnere mich an meine Studienzeit, als uns ein Dozent die KSZE-Schlussakte interpretierte und am Ende sagte: Wenn die Friedensfrage jetzt geklärt ist, geht die Auseinandersetzung zwischen Ost und West in erster Linie um die wirtschaftlichen, wissenschaftlich-technischen und um die Effizienzfragen. Das war der Wettbewerb, der sich unmittelbar aus der KSZE ergab. Und den hatten wir als DDR vorher schon verloren, ebenso wie die Sowjetunion gegenüber den USA.
Nach dem Ende der Blockkonfrontation spielte die KSZE – trotz einiger Folgemaßnahmen bei Abrüstung und Vertrauensbildung – eher eine Nebenrolle. Die 1994 aus der KSZE entstandene OSZE konnte an die Erfolge nicht anknüpfen, obwohl es zu neuen Spannungen in Europa kam. Wo lagen die Hürden?
Ganz einfach: Der Westen wollte keine neue Funktion für die KSZE beziehungsweise OSZE. Die USA – das ist aus allen Dokumenten und historischen Untersuchungen inzwischen klar geworden – wollten in erster Linie, dass die Nato fortbesteht. Weil dies die Garantie für sie war, in Europa einen Fuß in der Tür zu behalten, auch nach dem Ende des Kalten Krieges. Und gleichzeitig stellte dies die Bedingung dar, dass Deutschland nach der Vereinigung in der Nato bleibt. Insofern gab es für die OSZE keine wirkliche Funktion mehr.
War das praktisch die Absage an eine kollektive europäische Sicherheitsordnung?
Wir müssen da ganz klar unterscheiden, was auch in der Presse immer wieder durcheinandergebracht wird: Es gibt Systeme der kollektiven Sicherheit und Systeme der kollektiven Verteidigung. Diese sind grundsätzlich verschieden. Daher ist übrigens auch dieses berüchtigte Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Nato aus den 1990er Jahren falsch, in dem das Gericht sagte, die Nato sei eine Organisation kollektiver Sicherheit. Das ist sie eben nicht! Ein System kollektiver Sicherheit hat immer den tatsächlichen oder möglichen Gegner einbezogen in die Organisation. Dagegen ist ein System der kollektiven Verteidigung immer gegen jemanden gerichtet. Diese beiden Systeme konnten nicht nebeneinander existieren, weil man ja die Nato präferieren wollte. Und deswegen hat man die OSZE zu einer zahnlosen Organisation gemacht, die sich in erster Linie mit Wahlbeobachtung in Osteuropa beschäftigt hat.
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Für den Westen blieb dann auch nach Ende der Block-Konfrontation Russland der eigentliche Gegner?
Ja, klar. Alle Versuche, das auf andere Füße zu stellen, wurden verhindert. Es gab Ideen in Moskau unter Jelzin, man könnte ja auch der EU beitreten oder der Nato. Diese Vorstellung hatte Chruschtschow schon mal in den 1950er Jahren. Das ist immer grundsätzlich abgelehnt worden, man wollte Russland in diesen Organisationen nicht haben. Es bleibt unter dem Strich, man hat Russland eigentlich immer als Gegner betrachtet – also unabhängig davon, was es tut. Diese Positionierung ist schon lange vor dem Überfall auf die Ukraine vorgenommen worden. Der Westen hat den Kalten Krieg gewonnen und nicht nur die Sowjetunion als politisches System, sondern auch Russland hat verloren. Das ist eigentlich der Kern der gegenwärtigen weltpolitischen Auseinandersetzung.
Daraus ergibt sich eine sehr düstere Perspektive, was eine Wiederbelebung eines KSZE-Prozesses im weitesten Sinne anbelangt.
Ja. Russland ist, wenn man die offizielle Propaganda in Deutschland und in den meisten europäischen Nato-Ländern anguckt, nach wie vor der Feind. Und dann werfen diese Staaten Trump vor, er sei der große Verräter, weil er meint, dass man mit dem Putin auch reden muss. Das hat aber Trump schon in seiner ersten Amtszeit gesagt, und zwar in erster Linie mit der Begründung, dass Russland das einzige Land ist, das genauso viele Atomwaffen hat wie die USA. Deswegen sei es klug, keine Auseinandersetzung mit den Russen zu führen. Das war die Ausgangsposition der Trumpschen Politik, und die gilt heute noch.
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