1. FC Nürnberg: Sie werden nie mehr einen Morlock haben

Die Zweite Bundesliga beginnt – mit einem 125-Jährigen, dem 1. FC Nürnberg

  • Jürgen Roth
  • Lesedauer: 6 Min.
Er hatte Strahlkraft, weil er nie strahlen wollte: Max Morlock, 1961 mit der Meisterschale
Er hatte Strahlkraft, weil er nie strahlen wollte: Max Morlock, 1961 mit der Meisterschale

Dass der 1. FC Nürnberg, der ehedem »Ruhmreiche«, wie er bis heute in Festtagsreden und Chroniken allezeit gepriesen wird, am 4. Mai seinen 125. Geburtstag hat feiern können, ist ein welthistorisches Wunder. Denn seit den Siebzigerjahren häufte der nachmalige Rekordabsteiger peu à peu und unverdrossen einen Mount Everest an Schiebereien, Schwarzgeldschweinereien, Veruntreuungsgaunereien und sonstigen profunden Skandalen und Finanzkungeleien an. Der DFB hätte dem Club mindestens zwanzigmal die Lizenz entziehen müssen. Schleppten die hohen Herren vom Valznerweiher auch regelmäßig schmucke Ledergeldkoffer zu den Funktionären?

Von alledem war in den nicht enden wollenden, das Jubiläum umrankenden Publikationen aus dem Hause »Nürnberger Nachrichten« selbstverständlich nirgendwo die Rede. Wie gewohnt prasselten die semantisch entkernten Stichwörter auf einen ein: »Magie«, »Faszination«, »Tradition«, »Phänomen«, »Kult« und so fort, und natürlich krönte Markus Söder, gebürtig aus Nürnberg-Schweinau, diese enervierende sprachliche Sprachlosigkeit im Rahmen des Empfangs im städtischen Rathaus mit einem besonders klebrigen Exempel seines unablässigen Geredes: »Ein Leben ohne den Club ist für keinen von uns [meint: von uns Franken] vorstellbar.«

Man hat selten einen dümmeren Satz gehört. Einer satten Mehrheit unseres urfränkischen Familienfreundeskreises ist der Club völlig wurscht, meiner Mutter war er scheißegal, sogar meinem Vater ging er in den letzten Jahren bloß noch auf die Nerven. Am freitäglichen Stammtisch beim Bischoff interessiert sich so gut wie niemand für ihn, und die Mutter der schönen Frau, die im Zabo Haus an Haus mit den legendären Spielern Uebelein I und Uebelein II aufgewachsen war (was der Zabo ist, muss man nicht erklären), lachte stets, fragte man sie nach der Bedeutung des FCN für sie.

Das größenwahnsinnige, geschichtsblinde und gegenwartsvergessene Zeitungsremmidemmi flankierte zu allem Überdruss der fünfteilige »Nürnberger Nachrichten«-Podcast »Ein Fels in wilder Brandung«, in dem unter dem Vorsitz des Stilschänders Hans Böller stundenlang über die »Unerklärlichkeit« des einstigen Rekordmeisters und darüber schwadroniert wurde, dass der FCN der Fußball sei. Und weil das nicht langte, fackelte das Bayerische Fernsehen eine neunzigminütige Sondersendung ab, in der – neben, zugegeben, ein paar sehr brauchbaren TV-Archivsequenzen, die eingespielt wurden – auf schwachsinnige Fragen jenseitig peinlich-blöde Antworten folgten (abermals Söder: »Club-Mindset«, oder: »Der Club, ein explosives Spannungsfeld für die Legendenbildung«).

Dass das alles auch anders, gewissermaßen ehrlich zu handhaben wäre, bewies der großartige, analytisch immer glänzende Ex-Trainer Hans Meyer, der die deprimierende Humorlosigkeit der Fans bemängelte (man sei »nie zusammengekommen«). Und mein Freund Günther Koch, der im Radio die Nürnberger Spiele kommentierte und der zu Recht keinen Bock hatte, ins TV-Studio zu latschen, ließ in Interviews mit der »Süddeutschen Zeitung« und der »Bild« die Luft raus: »Als der Fußball noch sauber war, war der Club unerreicht. Als der Fußball dreckig wurde, machte der Club nicht mehr mit, zwar nicht absichtlich, aber seitdem hat er keine Chance mehr.« Er wünsche dem Verein daher »mehr Genügsamkeit und [die] klare Erkenntnis, dass der Club in diesem fern- und fremdgesteuerten Bundesligageschäft nie wieder Meister wird«.

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Warum der 1. FC Nürnberg – der einerseits, einem Bonmot des in Nürnberg weltberühmten »Behelfsfußballreporters« (Selbstbezeichnung) Klaus Schamberger zufolge, »ein Depp« ist, andererseits, so ein allzu bekanntes Lied, als Legende lebe – jenseits der regionalreligiösen Überhöhung und der systemischen Lumpereien etwas Humanes, Rührendes verkörpert, bringt einem der außerordentlich gelungene, mit eindrücklichen Stills gespickte, ambitioniert nicht-chronologisch komponierte, mehr als zwei Stunden lange Dokumentarfilm »Aura einer Legende« nahe (DVD und Blu-ray, zu beziehen über fcn.de). Da werden Brüche nicht gekittet, schmerzhafte Momente nicht übertüncht, und »die Dimension des Clubs« (Michael Wiesinger) schrumpft auf das zusammen, was einem menschlichen Leben nicht schlecht zu Gesicht steht: auf Bindung, Verlässlichkeit, stillen Trotz, auf Nahbarkeit und Sehnsucht, auf Demut, auf ein unaufdringliches Maß an profaner Sakralität.

Die interviewten, bisweilen furchtbar selbstgerechten Ultras wirken ab und an zutiefst sympathisch, und die schönsten Sätze sprechen der ehemalige Fanbetreuer Jürgen Bergmann und das »Phantom«, der mehrfache Torschützenkönig Marek Mintál in die Kamera. Bergmann: »Wir können gegen jeden verlieren.« Mintál: Fußball sei manchmal »wie ein Film, aber dieser Film ist ohne Schauspieler«. Sowie: »Der Club war für mich einfach alles.«

Über allem aber thront Max Morlock, der Maxl, der Weltmeister und zweimal Deutscher Meister wurde, aber nie auf einen Herrschersessel zu steigen gedachte. »Er ist das Ehrendenkmal, das kein Denkmal braucht«, sagt Günther Koch in der »SZ«: »Bei Max Morlock war ich jedesmal beschämt, wie bescheiden und dankbar er war, wenn ich ihn interviewt habe. […] Man kann Max Morlock gar nicht genug würdigen. Man muß ihn erlebt haben – und dann sollte man ruhig sein.«

Am 25. November 1989 – der Club wird den FC Bayern auf eisig-weißem Boden schließlich mit 4:0 rasieren, ein Triumph für die Ewigkeit – schnappte sich Koch in der Pause den Maxl. Ich hab’ das kurze Gespräch auf Kassette:

Morlock: »Das is’ doch selbstverständlich. Wenn Sie sog’n, ich soll ans Mikrophon, komm’ ich doch. Auf Grund des schweren Bodens is’ es ein sehr gutes Spiel beiderseits.« Koch: »Und der Freistoß war raffiniert gemacht, der Trick über die Mauer.« Morlock: »Des war a sehr guter Trick und war Elfmeter.« Koch: »Danke. Max Morlock, wie geht’s aus?« Morlock: »Ich glaub’, dass die Club-Mannschaft mit dem schweren Schneeboden besser zurechtkommt. Ich hoffe immer noch an mein’ Tip: 2:1.«

In diesen wenigen Sätzen ist Max Morlock in seiner charakterlichen Physiognomie gänzlich gefasst. Er hatte Strahlkraft, weil er nie strahlen wollte. Er war – so schildert ihn Heini Müller, der an der Seite des 36-Jährigen als einer der »Jungen Wilden« 1961 Deutscher Meister wurde – ein älterer Bruder, der niemanden bevormundete, sondern jedermann milde und rücksichtsvoll Hilfe gewährte. Und er war eine Vaterfigur. So beschreibt ihn der geniale Stürmer Kurt Haseneder: »Einen Vater habe ich nie gehabt, aber zum Max hast du mit allem kommen können. Mit ihm hat man über alles reden können – ein besseres Vorbild kann man sich eigentlich nicht wünschen.«

Bernd Siegler, Ko-Autor von »Aura einer Legende« und hochverdienstvoller Kurator des Club-Museums, hat im Vorfeld des 100. Geburtstages von Morlock am 11. Mai dieses Jahres in seine akribisch gearbeitete, im historischen Präsens erzählte Biografie »Max Morlock – Hoch hinaus« (Fürth 2024) all die Zitate eingebettet, die über den größten kleinwüchsigen Kopfballer aller Zeiten, über den Flachpasskönig, den beidfüßigen Halbrechten, den Ballschlepper, das »Arbeitspferd« (Zapf Gebhardt), das »mit dynamischer Gewalt aus der Tiefe des Mittelfeldes kam« (Sepp Herberger), über den Weltmeister von 1954 überliefert sind.

Ja, der Maxl war und ist ein »Kulturgut« (Schamberger). Er führte ein anmutig ereignisarmes, kleinbürgerliches Leben – friedfertig, gutmütig, »seelengut« (Sport-Magazin), bescheiden, großzügig, herzlich (so seine Tochter Birgit Bussinger). Er kultivierte die Gesprächsfreude, und im Zentrum seines Lebens stand, fränkisch durch und durch, die »Erbert«. Daher rühren vermutlich die Ehrpusseligkeit und die Bravheit von Bernd Sieglers Buch. Allein, wenn dein Protagonist keine einzige wilde oder wuchtige Äußerung getätigt hat, was willste dann machen?

Am 4. Mai 2025, zum Jubiläum, spielte der Club im Max-Morlock-Stadion gegen die SV Elversberg – Endstand naturgemäß: 1:3. Morgen um 13 Uhr tritt der FCN zum Saisonauftakt wo an? Bei der SV Elversberg. Mein Tip: 0:4. Sie haben ja keinen Morlock mehr. Sie werden nie mehr einen Morlock haben.

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