Madrid: Kampf ums Wohnen mit gezückter Wasserpistole

In Madrid verwandeln Bewohner des Viertels Vallecas ihren Kampf ums Wohnen in eine sommerliche Seeschlacht

  • Maren Häußermann, Madrid
  • Lesedauer: 7 Min.
Die »Seeschlacht von Vallecas« ist ein Spektakel in Madrid. In diesem Jahr stand es im Zeichen der Wohnungskrise, die sich im Südosten der spanischen Hauptstadt zuspitzt.
Die »Seeschlacht von Vallecas« ist ein Spektakel in Madrid. In diesem Jahr stand es im Zeichen der Wohnungskrise, die sich im Südosten der spanischen Hauptstadt zuspitzt.

Mit ihren Wasserpistolen strömen die Vallecanos aus den Häusern, aus den Metrostationen, aus den Ramschläden. Sie füllen ihre Spielzeugwaffen an Trinkbrunnen oder wassergefüllten Mülltonnen nach. Dann stürzen sie sich ins Gefecht. Seit 1982 veranstalten die Bewohner des Wohnviertels Vallecas im Südosten von Madrid die »Seeschlacht von Vallecas«. »Mójate« heißt auf Spanisch nicht nur »Mach dich nass!«, sondern auch »Setz dich ein!« und dieses Jahr tun die Menschen das für »würdiges Wohnen«. Mit gezückter Wasserpistole machen die Hauptstadt-Bewohner auf die prekäre Situation auf dem Immobilienmarkt aufmerksam. Anders als in Barcelona oder Mallorca spritzen sie nicht auf Urlauber, sondern feiern ein Spektakel. Sie zeigen damit, dass sie eine Gemeinschaft sind, die dazu bereit ist, ihr Viertel gemeinsam zu verteidigen.

Aber sie brauchen auch eine Abkühlung. Wie dem Rest der Madrilenen fehlt auch ihnen im Juli das Meer. Während die Sonne vom Himmel brennt und die Betonwüste im Zentrum der Iberischen Halbinsel auf 38 Grad erhitzt, erschaffen sie sich deshalb selbst eins. Aus »Puente de Vallecas«, der Brücke, wird »Puerto de Vallecas«, der Hafen. Aus der »Plaza Vieja« wird die »Playa Vieja«. Wie beim Karneval fährt ein Piratenschiff durch die Straßen, und das Wasser klatscht laut dagegen. Nur kommt es nicht von unten.

Die Anrainer schütten kübelweise davon aus den Fenstern und von den französischen Balkonen, die typisch für die Madrider Architektur sind. Die Crew in blau-weiß-gestreiften Matrosenshirts feuert mit ihren Wasserpistolen zurück. Zum Widerstandslied »Bella Ciao« steuert sie an einem Haus vorbei, dessen Bewohnern ausziehen sollen. Denn die Firma »Nuevas Inversiones S.L.« – hat »neu investiert«. In Touristenwohnungen, wie die Nachbarschaft befürchtet.

Was die Vallecanos auch verbindet, ist ihr Viertel. Dort fühlen sich die Menschen historisch von der Hauptstadtverwaltung vernachlässigt. Deshalb hat sich über die Jahrzehnte unter den rund 240 000 Einwohnern ein starker sozialer Zusammenhalt entwickelt. Nach jüngsten Statistiken ist es das Viertel mit der höchsten Arbeitslosenquote in Madrid. Und das mit den meisten eingeschriebenen Vereinen, wie die linke Partei Más Madrid auf ihrer Website schreibt. In Vallecas leben ihre Wähler. Hier hat sie gemeinsam mit der anderen linken Partei Podemos bei der letzten Kommunalwahl 2023 knapp 35 Prozent der Stimmen erzielt. Bei den Nationalwahlen im selben Jahr konnte die sozialistische Arbeiterpartei PSOE das Viertel gewinnen. Aber wählen alleine reicht den Vallecanos nicht, viele leben ihre politische Überzeugung. Sie kümmern sich umeinander und stehen füreinander ein. Vor allem dann, wenn es um das Thema Wohnen geht.

Letztes Jahr sorgten die Vallecanos für Schlagzeilen, weil sie gegen die Zwangsräumung von Mariano mobil gemacht hatten. Dem 56-Jährigen, der ein Herzleiden aber keine Einkünfte hat, war die Wohnung gekündigt worden. Angeblich ging es dabei um eine nicht gezahlte Wasserrechnung in Höhe von 45 Euro. Juristisch war die Kündigung möglich. Doch die sozialen Umstände machten aus diesem Fall ein Beispiel für die Unmenschlichkeit, die mit dem ständigen Versuch einhergeht, Profite maximieren zu wollen. Die Wohnung gehörte ursprünglich zum staatlichen Sozialwohnungsbestand, der in den vergangenen Jahrzehnten jedoch massiv privatisiert wurde.

Was Marianos Fall außerdem brisant machte, ist die Vermieterin. Laut der Bürgerinitiative PAH besitzt die 94-jährige Aristokratin 13 Wohnungen, vier Jagdgebiete und einen Country Club in einer der teuersten Gegenden der Stadt. Dass sie aus einer Familie mit Verbindungen zum ehemaligen Diktator Francisco Franco stammt, ließ die Gemüter zusätzlich erhitzen.

»Wir Nachbarn erfahren über unser Netzwerk von geplanten Räumungen und kommen dann hin, um ein Zeichen zu setzen und die Betroffenen zu unterstützen«, erklärt Elena Ortega. Die Frau mit den rot gefärbten Locken und einem unverkennbaren Kampfgeist ist Inklusionsbeauftragte an einer weiterführenden Schule. Sie berichtet von ihren Erfahrungen mit Schülern, die plötzlich Verhaltensstörungen aufweisen, nervös und unkonzentriert sind. »Als ich es geschafft habe, einen Jungen zum Reden zu bringen, hat er erzählt, dass seine Familie schon seit einem Monat auf dem Boden schläft, umringt von gepackten Kisten, und darauf wartet, rausgeschmissen zu werden.« In Vallecas sind es die Nachbarn, Lehrer und Ärzte, die die Probleme ihrer Mitmenschen wahrnehmen und sie an die Initiative PAH verweisen, die regelmäßig diese Fälle bespricht. »Jeden Mittwoch kommen ein bis zwei neue dazu«, sagt Israel, der in Gesprächsrunden erklärt, was zu tun ist, wenn der Räumungsbescheid kommt.

Rund 20 Zuhörenden empfiehlt er, die Zwangsräumung so lang wie möglich hinauszuzögern und das Argument der sozialen Härte zu nutzen. Dadurch ist es möglich, die juristische Rechtfertigung zu bekommen, den Prozess bis zum Jahresende aufzuschieben. Zudem sei es wichtig, gemeinsam zu agieren. »Wenn wir individuell verhandeln, gewinnen wir nichts«, sagt er. Ziel von Investoren sei es, die Betroffenen zu isolieren und mit einer Einmalzahlung abzuspeisen. Israel mahnt, dass das Geld nur kurzfristig helfe.

Die Initiative hat sich ursprünglich formiert, um Menschen zu helfen, die durch die Immobilienkrise von 2008 ihre Hypotheken nicht bedienen konnten. Heute sieht sich der Ableger in Vallecas mit einer neuen Hauptaufgabe konfrontiert: Jene zu unterstützen, die kurz davor stehen, ihre Mietwohnung zu verlieren. Im vorigen Jahr wurden in Madrid 2375 Wohnungen zwangsgeräumt. Das liege vor allem daran, dass sich mit der Wohnungsvermietung an Touristen viel mehr Geld machen lässt als mit Menschen, die eine dauerhafte Bleibe suchen. Darin ist man sich im Viertel einig. »Früher hörte man das Geräusch von Einkaufswagen auf der Straße, heute sind es Reisekoffer«, sagt Israel.

Auch Miriam beobachtet diese Entwicklung. »Vallecas ist ein Viertel, in dem man sich kennt und grüßt. Aber jetzt sehen wir immer mehr Menschen, die wir nicht kennen«, sagt die 34-Jährige. Sie hat die meiste Zeit ihres Lebens hier gelebt, und auch sie schätzt das vielfältige Vereinsleben, die alteingesessenen Kneipen und die Geschäfte, die lokale Produkte verkaufen. Sie will, dass Vallecas lebenswert bleibt und sich nicht für den Tourismus verändert, aber sie befürchtet, dass es dafür schon zu spät sei: »Früher bin ich runter zur Plaza Vieja gegangen, um ein Bier zu trinken und Leute zu treffen. Jetzt reservieren dort Touristen die Tische. Die konsumieren anders, dadurch steigen die Preise.« Urlauber haben oft mehr Geld, für viele Einheimischen wird es zu teuer. »Ich sehe auch, dass Metzgereien und Bäckereien schließen und an ihrer Stelle Supermärkte öffnen, die Produkte für Menschen auf Durchreise anbieten.« Die gelernte Grafikdesignerin gehört zu den Bewohnern des Hauses von »Nuevos Inversiones S.L.« Am Tag, an dem das Piratenschiff dort vorbeizieht, muss sie ihre Schlüssel abgeben.

»Meine Wohnung war die 2a, drei Schlafzimmer, 973 Euro im Monat,« erzählt Miriam. Der ehemalige Besitzer habe die Mieteinnahmen nicht versteuert, weshalb sich das Finanzamt eingeschaltet habe. Schließlich wurde das Gebäude verkauft. »Im Dezember stand plötzlich der neue Besitzer vor der Tür. Im Januar kamen dann die Briefe, dass unsere Mietverträge nicht verlängert werden.« Miriams Vertrag lief im Februar aus. Nach Rücksprache mit der PAH hat sie eine Aufschiebung bis Juli erwirkt. »Aber man kann das nicht ewig hinauszögern. Nicht alle haben die Ressourcen, um es auf eine juristische Auseinandersetzung ankommen zu lassen«, sagt sie.

Der neue Vermieter habe ihr erzählt, was er mit den sechs Wohnungen und dem Chinarestaurant im Erdgeschoss vorhat: Aus den großen Wohnungen mit drei Schlafzimmern und zwei Badezimmern werden Zimmer mit einem geteilten Bad oder Ministudios. Damit kann man mindestens das Doppelte an Mieteinnahmen erzielen. »Er hat gesagt, er habe eine Million in das Gebäude investiert und jetzt wolle er damit Geld verdienen.« Die künftige Vermietung zielt offenbar auf Touristen ab. Bei der Kommunikation wegen der Schlüsselübergabe sei immer eine Booking-Telefonnummer angezeigt worden, ist Miriam aufgefallen. »Es wurde nie darüber verhandelt, dass wir bleiben, es ging nur darum, wann wir gehen.«

Miriams Wohnung steht nun für das große Geschäft zur Verfügung. Sie selbst hat eine neue Bleibe gefunden. Doch die Erfahrung, verdrängt zu werden, wird sie noch lange begleiten. Auch deshalb will sie sich weiter engagieren, mit der PAH und mit ihren Nachbarn. Eine Schlacht ist verloren, aber es gibt noch viele andere, in denen die Vallecanos kämpfen werden.

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