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Kampagnenmacht gegen Selbstbestimmung von Frauen
Der Fall Brosius-Gersdorf wirf ein Schlaglicht auf reaktionärste Kreise, die eine Legalisierung des Schwangerschaftabbruchs verhindern wollen
Regierungen berufen sich gern auf eine Mehrheit im Volke, deren Sorgen man ernst nehmen und deren Forderungen man umsetzen müsse. Zumindest, wenn es um die Verschärfung des Asylrechts geht. Wenn es aber zum Beispiel um die Behandlung von Frauen als mündige Subjekte geht, dann tut sich die Bundespolitik schwer, ihnen eigentlich selbstverständliche Selbstbestimmungsrechte zuzugestehen. Dann spielt auch die Meinung der überwältigenden Mehrheit keine Rolle.
Das lässt sich eindrücklich an der zähen Debatte um eine Streichung des Paragrafen 218 aus dem Strafgesetzbuch erkennen, die eigentlich schon mehr als ein halbes Jahrhundert andauert. Dabei haben sich in Umfragen wiederholt rund 80 Prozent der Bürger dafür ausgesprochen, den Schwangerschaftsabbruch endlich zu entkriminalisieren, zumindest in den ersten zwölf Wochen nach der Empfängnis. Das würde bedeuten, dass der Eingriff für diesen Zeitraum endlich keine Straftat nach Paragraf 218 des Strafgesetzbuches wäre. Bislang ist der Eingriff nur straffrei gestellt, sofern die Schwangere einen vorgeschriebenen Beratungstermin wahrnimmt und danach nochmals drei Tage Wartefrist einhält.
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Genau für eine solche Regelung, nach der der Abbruch in den ersten drei Monaten der Schwangerschaft endlich legal wäre, hatte sich auch die Rechtswissenschaftlerin Frauke Brosius-Gersdorf als Mitglied der Expertenkommission zu reproduktiver Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin ausgesprochen, die im Auftrag der Ampel-Regierung ein Gutachten erarbeitet hatte, wie diese Legalisierung rechtssicher gestaltbar wäre.
Dass die Vorschläge der Fachleute nicht Gesetz wurden, hat letztlich nicht in erster Linie mit dem Auseinanderbrechen der Ampel Anfang November 2024 zu tun. Vielmehr bremsten der damalige Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) und Justizminister Marco Buschmann (FDP) eine Gesetzesinitiative der Ampel aus. Sie wollten nun nochmals mit allen maßgeblichen Akteuren sprechen und verhandeln, um einen vermeintlichen gesellschaftlichen Großkonflikt zu vermeiden.
Diesen Konflikt gibt es aber nur, weil Vertreter des Milieus der selbsternannten Lebensschützer sehr gut organisiert und international vernetzt sind und weil sie ihren Positionen lautstark Gehör verschaffen. Ihre Lobbyisten haben nachweislich enormen Einfluss auf die Bundespolitik, obwohl sie eine Minderheit repräsentieren. Nur mit dieser Minderheit hätten sich die Minister angelegt, wenn sie sich nach Veröffentlichung des Gutachtens zu einer Gesetzesinitiative entschlossen hätten.
Die inzwischen erfolgreiche rechtskonservative Kampagne gegen die Wahl von Frauke Brosius-Gersdorf zur Verfassungsrichterin ist letztlich nur ein Beispiel für die zunehmende Macht, die Gegner des Schwangerschaftsabbruchs und damit der Selbstbestimmung von Frauen in der bundesdeutschen Gesellschaft haben.
Zentral in der Kampagne war der Vorwurf, Brosius-Gersdorf würde angeblich »Abtreibungen bis zur letzten Sekunde vor der Geburt« eines Kindes befürworten. So absurd diese Behauptung, so erfolgreich war das damit verbundene Empörungsmanagement insbesondere in Teilen der Bundestagsfraktion von CDU und CSU.
Zu der Aussage sah man sich in Medien wie »Nius« berechtigt, weil Brosius-Gersdorf im Zusammenhang mit der Debatte um eine Reform des Paragrafen 218 konstatiert hatte: »Es gibt gute Gründe dafür, dass die Menschenwürdegarantie erst ab Geburt gilt.«
In ihrer am Donnerstag veröffentlichten Erklärung zu ihrem Rückzug von der Kandidatur zur Verfassungsrichterin sah sich die Wissenschaftlerin veranlasst, noch einmal ausführlich ihre Formulierungen zu erläutern und zu betonen, dies bedeute eben nicht, dass sie sich für eine völlige Freigabe von Schwangerschaftsabbrüchen ausspreche.
Ihre Erörterung eines »rechtswissenschaftlichen Dilemmas«, in deren Rahmen der viel kritisierte Satz fiel, sei nicht zur Kenntnis genommen worden sei, beklagt die Professorin. »Da die Menschenwürdegarantie nach herrschender Meinung nicht abwägungsfähig ist, wären bei Geltung der Menschenwürdegarantie für den Embryo ab Nidation (Einnistung der befruchteten Eizelle in der Gebärmutter, d. Red.) Konflikte mit den Grundrechten der Schwangeren nicht lösbar«, schreibt sie. Lege man diese Auffassung zugrunde, wäre ein Schwangerschaftsabbruch nicht einmal bei Gefährdung des Lebens der Frau rechtmäßig, erläutert Brosius-Gersdorf. Es sei aber »bestehende Rechtslage«, dass der Eingriff bei medizinischer und kriminologischer Indikation schon jetzt völlig legal ist. »Die verfassungsrechtliche Lösung kann denklogisch nur sein, dass entweder die Menschenwürde abwägungsfähig ist oder für das ungeborene Leben nicht gilt«, so Brosius-Gersdorf.
Nachweislich hat Brosius-Gersdorf als Kommissionsmitglied dafür plädiert, den Paragrafen 218 nicht vollständig zu streichen, sondern Abbrüche nach der zwölften Woche grundsätzlich weiter unter Strafe zu stellen.
Erneut kritisierte die Professorin auch die Unionsfraktion im Bundestag: Die ablehnende Haltung eines Teils der Abgeordneten von CDU und CSU zu ihrer Haltung zum Schwangerschaftsabbruch stehe im Widerspruch zum Koalitionsvertrag, wo eine Erweiterung der Übernahme der Kosten des Eingriffs durch die Krankenkassen die Rede ist. Dies setze voraus, dass der Abbruch »in der Frühphase der Schwangerschaft rechtmäßig, d.h. legal« sei.
Darauf hatte Brosius-Gersdorf schon früher hingewiesen und damit eine Debatte zwischen Union und SPD ausgelöst, ob wegen der Formulierungen im Koalitionsvertrag Veränderungen im inzwischen mehr als 150 Jahre alten Paragraf 218 nötig seien. Mit einer Neuregelung im Sinne der Expertenkommission und jener 236 Abgeordneten von SPD, Grünen und Linken, die im November 2024 nach dem Auseinanderbrechen der Ampel noch einen Gesetzentwurf auf Basis der Vorschläge des Gremiums vorgelegt hatten, ist indes weiter nicht zu rechnen. CDU, CSU und FDP verhinderten im Februar, dass der Bundestag darüber abstimmen konnte.
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