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Angriffe auf die Presse: Tödlicher Konsens
Mithu Melanie Sanyal fragt, wie es dazu kommen konnte, dass das Töten bestimmter Menschen als nicht ganz so falsch gilt
»Mithu, stell Dir vor: Mir wird von drei Vorgesetzten SCHRIFTLICH untersagt, meine Sendung mit Francesca Albanese zu wiederholen«, schreibt mir Renata Schmidtkunz vom Österreichischen Rundfunk (ORF). Ihr Interview mit der Uno Sonderberichterstatterin für die besetzten palästinensischen Gebiete ist die beeindruckendste deutschsprachige Radiostunde dieses Jahres, weil Francesca Albanese darin die Mitschuld der Medien an den Verbrechen in Gaza anprangert: »Es gibt kein Mitgefühl mit Palästinensern, Palästinenser verdienen das, was mit ihnen geschieht.«
Während ich diesen Satz abtippe, kommt die Nachricht herein, dass Israel den Al-Jazeera-Reporter Anas Al-Sharif und fünf weitere Journalisten ermordet hat und die »Bild« titelt: »Als Journalist getarnter Terrorist in Gaza getötet«. Ja, das ist ein billiger Beweis für Albaneses Analyse. Doch auch »taz« und »Süddeutsche Zeitung« verschwenden einen großen Teil ihrer Kurznachrichten für das Statement der israelischen Armee, dass Al-Sharif blablabla Hamas. Beweise? Trust me bro.
Umso mehr liebe ich den Schriftsteller Michael Rosen für seinen Post auf der Plattform X: »BREAKING NEWS: Als Reaktion auf die Ermordung der Al-Jazeera Journalisten weigern sich Journalisten heute weltweit, irgendetwas zu wiederholen, was Israel behauptet.« Ja, das ist Ironie. Aber es wäre höchste Zeit, die Aussagen der israelischen Regierung als das zu behandeln, was sie sind: Verlautbarungen einer Kriegspartei.
Mithu Melanie Sanyal ist Schriftstellerin, Journalistin und Kulturwissenschaftlerin, Tochter eines indischen Ingenieurs und einer polnischstämmigen Sekretärin, aufgewachsen in Düsseldorf. In ihren Sachbüchern und Romanen – ihr erster: »Identitti« war ein Riesenerfolg, in ihrem zweiten: »Antichristie« geht es um den bewaffneten Kampf gegen das Empire –, in Hörspielen und Essays verhandelt sie Fragen von Feminismus, Rassismus und sexueller Gewalt. Was Mithu Sanyal veröffentlicht, löst Debatten aus, und zwar ergiebige. Sie wird für uns über alles zwischen Alltag, Politik und Literatur schreiben.
Anas Al-Sharif hat die Weltöffentlichkeit schon vor Wochen um Schutz gebeten, nachdem der Armeesprecher Avichai Adraee ihn zu einer Zielscheibe erklärte, indem er ihm vorwarf, eine »Hamas-Kampagne« zu betreiben, weil Al-Sharif bei einer Live-Übertragung über die Hungersnot in Gaza in Tränen ausgebrochen war. Ich erinnere mich noch an die Menschen, die um ihn herum standen und riefen: »Berichte weiter! Berichte weiter! Du bist unsere Stimme!«
Nach einer Studie des Watson Institute for International and Public Affairs wurden im Gaza Krieg mehr Journalisten getötet als in den beiden Weltkriegen, dem Vietnam, Jugoslawien und Afghanistan Krieg zusammen. Trotzdem fehlt die Solidarität mit unseren getöteten Kolleg*innen schmerzlich. Vor allem in Deutschland.
Als wir versuchten, eine solche Petition im PEN Berlin einzubringen, wäre daran beinahe der Verein zerbrochen. »Sind das wirklich Journalisten?«, wurde diskutiert. Es wurden Social Media Feeds durchforstet, ob die Ermordeten wirklich an jedem Punkt ihres Lebens wie Gandhi waren: gewaltfrei. Und wenn nicht?
Wünsche ich etwa jedem deutschen Journalisten, der den Cartoon auf sozialen Netzwerken geteilt hat, in dem ein »Terrorist« überlegt: »Was soll ich heute anziehen, einen Arztkittel oder eine Presseweste?«, dass er oder sie von einer Bombe zerfetzt wird und ihre Familie mit dazu? Natürlich nicht! Was ich mir wünsche, ist, dass wir aufarbeiten, wie wir mit daran beteiligt sind, den Konsens herzustellen, dass Töten zwar falsch ist, aber das Töten bestimmter Menschen nicht ganz so falsch.
Renata Schmidtkunz wollte ihr Gespräch mit Francesca Albanese übrigens trotz aller Drohungen wiederholen – vergeblich. Sie kann lediglich darauf hinweisen, dass das Gespräch online zum Nachhören verfügbar ist.
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